Auch mit der neuen von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) geplanten Kronzeugenregelung soll das Denunziantentum in Strafverfahren staatlich belohnt werden. Am Dienstag hat die Ministerin einen Entwurf für eine Neuregelung vorgelegt (siehe jW vom 12.4.), mit der »Strafrabatt« oder sogar völlige Straffreiheit auf alle Straftaten ausgeweitet werden soll, wenn sich ein Beschuldigter auf einen Deal mit der Staatsanwaltschaft einläßt und sein (angebliches) »Wissen über geplante oder begangene Straftaten« offenbart. Die Kronzeugenregelung wurde 1989 von der damaligen CDU/CSU-FDP-Koalition erstmals eingeführt – mit der Begründung, man könne so die organisierte Kriminalität besser bekämpfen. Die Vorschriften betrafen speziell Straftaten im Zusammenhang mit der Bildung sogenannter krimineller oder terroristischer Vereinigungen. Diese Regelung war zeitlich befristet und wurde 1999 von der damaligen SPD-Grünen-Bundesregierung nicht verlängert.
Derzeit gelten im Strafrecht noch mehrere kleine Kronzeugenregelungen beispielsweise bezüglich Geldwäsche und Drogendelikten. Danach kann ein wegen Drogenhandels angeklagter Beschuldigter nur dann einen Strafnachlaß erhalten, wenn er den Behörden bei der Aufklärung oder Verhinderung einer Straftat ähnlicher oder gleicher Art hilft. Der neue Ansatz von Zypries besteht darin, zum einen solche »Vergünstigungen« künftig bei allen Straftaten auf dem Wege einer allgemeinen Strafzumessungsregel vorzusehen. Der Gesetzentwurf schränkt ihre Anwendung allerdings auch ein: Hat ein Kronzeuge einen Mord begangen, auf den eine lebenslange Freiheitsstrafe steht, darf das abgemilderte Urteil nicht unter fünf Jahren Haft liegen. Zugleich sollen diejenigen, die sich durch Falschaussagen Vergünstigungen erschleichen wollen, härter bestraft werden. Ausgeschlossen ist die Nutzung der Regelung, wenn der Kronzeuge sein Wissen erst nach der Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn preisgibt.
Für die Praxis bedeutet dies: Beschuldigte können schon im polizeilichen Ermittlungsverfahren massiv unter Druck gesetzt werden, andere zu denunzieren. Die psychische Ausnahmesituation, in der sich jemand befindet, der vernommen oder gar verhaftet wird, soll vom Staat ausgenutzt werden. Er soll der Verlockung erliegen, für sich Strafmilderung herbeizuführen, indem er Aussagen über Dritte macht. Das ist ein klarer Eingriff in die Aussagefreiheit. Zudem weiß jeder Praktiker, daß gerade bei Drogendelikten viele so gewonnene Aussagen falsch sind. Verurteilungen Unschuldiger sind damit programmiert.
Auch im politischen Strafrecht, das immer auch dazu diente, Linke zu kriminalisieren, würde die neue Regelung Folgen haben. Schon der Paragraph 129 a des Strafgesetzbuches über die Bildung krimineller, terroristischer – oder ausländischer terroristischer Vereinigungen erfordert nicht, daß einem Beschuldigten konkrete Taten vorgeworfen werden. Allein die »Mitgliedschaft« und sogar die nicht genauer beschriebene »Unterstützung« einer solchen Vereinigung rechtfertigen laut Gesetz drakonische Strafen. Über die Kronzeugenregelung wird es noch leichter sein, die ohnehin niedrigen Anforderungen für Verurteilungen noch weiter zu senken.
Zudem könnte sich dieses Herangehen auch auf den Umgang mit Migranten auswirken. Die Behörden könnten verstärkt versuchen, Menschen, die um die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis fürchten, beispielsweise zu Aussagen über andere Migranten zu nötigen, um diesen etwa eine unerlaubte politische Betätigung anhängen und sie so leichter abschieben zu können.
Der Deutsche Anwaltverein (DAV) wendet sich generell gegen die Kronzeugenregelung. DAV-Präsident Hartmut Kilger warnte vor der Gefahr von Falschaussagen. Der rechtspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Jerzy Montag, bezeichnete das Vorhaben als unnötig, weil ein »Strafrabatt« schon nach jetziger Gesetzeslage möglich sei. Seine Aussage macht indes deutlich, daß die Grünen eine Belohnung für das Kooperieren mit Polizei und Staatsanwaltschaft grundsätzlich für richtig halten.
Aus: junge welt vom 13. April 2006