Aufgrund zweier Anträge der Linksfraktion und der Grünen wird sich am 26. Juni 2006 der Innenausschuß des Bundestags in einer Sachverständigenanhörung mit einem Thema auseinandersetzen, das jahrzehntelang verdrängt worden ist. In der BRD leben nach (unsicheren) Schätzungen eine Million Menschen, deren grundlegende Rechte nicht gewahrt sind, weil sie über keinerlei Aufenthaltstitel verfügen. Sie werden als »Illegale« diffamiert, obwohl kein Mensch per se »illegal« ist, sondern erst durch Gesetze dazu gemacht wird. Diesen »Illegalisierten«, wie man sie treffender bezeichnen sollte, droht jederzeit Verhaftung und Abschiebung. Daher können sie auf keine gesicherte medizinische Versorgung hoffen, weder auf eine gerechte Entlohnung ihrer Arbeit noch auf Zugang zu den Schulen für ihre Kinder.
Dies alles ist eine Folge der langjährigen Abschottungspolitik gegenüber Flüchtlingen und Migranten. Systematisch wurde mit dem sogenannten Asylkompromiß von 1993 der Weg für Schutzsuchende versperrt. Das unter Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) gemeinsam von SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP verabschiedete, seit 1. Januar 2005 geltende Zuwanderungsgesetz erwies sich – wie beabsichtigt – faktisch als Zuwanderungsverhinderungsgesetz. Migranten werden nur noch nach dem Prinzip der Nützlichkeit für die deutsche Wirtschaft eingelassen, aber selbst diese Hürden sind so hoch, daß die BRD im »Wettbewerb um die besten Köpfe« hoffnungslos ins Hintertreffen geraten ist. Die Asylbewerberzahlen sind auf einem historischen Tiefststand angelangt. Legale Zuwanderung ist kaum mehr möglich. Die große Koalition aus CDU/CSU und SPD setzt diese Politik konsequent fort, indem sie dafür wirbt, die deutschen Abschottungsregeln auf die gesamte Europäische Union zu übertragen.
Verständlicherweise suchen die Menschen dennoch aus unterschiedlichsten persönlichen Motiven heraus nach Wegen, sich jenseits der engen gesetzlichen Bestimmungen vorübergehend oder dauerhaft in der BRD aufzuhalten. Ihre rechtliche und soziale Situation ist prekär. Das wissen selbstverständlich auch die Politiker. Sie haben aber das Thema immer tabuisiert aus Angst, es könnte Wählerstimmen kosten, sich für Menschen ohne Papiere einzusetzen.
Einzelne engagierte Akteure aus der Bürgergesellschaft haben am Rande des Mainstreams die Problematik angesprochen: Vertreter der Kirchen, der Flüchtlingsorganisationen, einzelne Wissenschaftler. Wenigstens »wagte« es die von Rita Süssmuth geleitete Zuwanderungskommission in ihrem Schlußbericht 2001, einige Sätze den Illegalisierten zu widmen. In Berlin entstand das »Katholische Forum Leben in der Illegalität«. Auf Initiative des Jesuitenpaters Jörg Alt wurde »eine pragmatische Auseinandersetzung mit dem Thema« versucht, die in ein im März 2005 veröffentlichtes »Manifest illegale Zuwanderung – für eine differenzierte und lösungsorientierte Diskussion« mündete. Dieser Aufruf wurde von 405 Unterzeichnern aus Politik und Gesellschaft mitgetragen, ohne daß er zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte geführt hätte.
Eine Position, auf die sich die unterschiedlichsten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens verständigen, läuft immer Gefahr, nur einen Minimalkonsens abzubilden. So wurde in dem Manifest sehr vorsichtig formuliert, »jeder Versuch, irreguläre Zuwanderung im Rahmen der rechtsstaatlich vertretbaren Möglichkeiten zu begrenzen, (müsse) sich auch mit ergänzenden und alternativen Maßnahmen« auseinandersetzen. »Dabei sind etwa zu berücksichtigen: praktische Fragen im Zusammenhang mit humanitären Anforderungen wie etwa der medizinischen Grundversorgung, dem Schutz vor Ausbeutung und Schuldknechtschaft oder der Berücksichtigung mitbetroffener Kinder«.
Nicht einmal kleine Fortschritte
In der Regierungszeit von SPD und Grünen gab es auch bei diesen Alltagsfragen keinerlei Verbesserungen. Nun zwingen die beiden Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und von der Fraktion Die Linke das Parlament, sich dem Thema zu stellen. Die Grünen (BT-Drucksache 16/445) tasten sich dabei weitgehend an einem denkbaren kleinsten gemeinsamen Nenner entlang. Demnach sollen die Bundesländer Regelungen schaffen, die dem Recht auf Bildung aller Kinder entsprechen. Die Härtefallkommissionen sollen sicherstellen, daß ein illegaler Aufenthalt keinen Ausschlußgrund für die Annahme eines Härtefalles darstellt. Die deutschen Auslandsvertretungen sollen künftig »auf die Gefahren und Folgen einer unerlaubten Einreise bzw. irregulären Beschäftigung in Deutschland« hinweisen. Ferner soll der Zugang zu einer medizinischen Grund- bzw. Notfallversorgung gesichert werden, die Möglichkeit, Ansprüche auf Lohnzahlung vor Gericht einzuklagen, das Recht auf Schulbesuch. »Hierzu müssen Krankenhäuser, Schulen und Arbeitsgerichte aus der Meldepflicht nach § 87 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) herausgenommen werden. Die Strafbarkeit von Beihilfehandlungen gemäß § 96 AufenthG wird eingeschränkt. Und schließlich wird die Abschiebung von illegal beschäftigten Ausländerinnen und Ausländern ausgesetzt, wenn diese als Zeugen bei strafrechtlichen Ermittlungen gegen ihren Arbeitgeber wegen Menschenhandels oder Ausbeutung benötigt werden.«
Die derzeitige, von der SPD/Grünen-Koalition nicht geänderte Praxis sieht noch anders aus. In Ländern wie Hessen gibt es ein ausdrückliches Verbot, Kindern von Illegalisierten den Schulbesuch zu gestatten. Krankenhäuser sind verpflichtet, Illegalisierte bei einer medizinischen Behandlung den Ausländerbehörden zu melden, damit die Abschiebung veranlaßt wird. Ärzte, die Notfallversorgung leisten, laufen Gefahr, wegen Beihilfe zum unerlaubten Aufenthalt bestraft zu werden. Beamte, die Leistungen nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz an illegalisierte Familien bewilligen, können wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder angeklagt werden. Repressive Maßnahmen wie diese müssen selbstverständlich umgehend beendet werden.
Von den Ursachen sprechen
Der Antrag der Fraktion Die Linke »Für die unbeschränkte Geltung der Menschenrechte in Deutschland« (BT-Drucksache 16/1202) verfolgt einen über diese Detailprobleme hinausgehenden, tieferen Ansatz. Er analysiert den Kontext der inhumanen Abschottungs- und Ausgrenzungspolitik der BRD und stellt fest: »Die Gründe dafür, daß Menschen ohne eine behördliche Erlaubnis in Deutschland leben, sind vielfältig. Nicht selten hängen sie mit der restriktiven Rechtslage und Behördenpraxis in der Asyl- und Ausländerpolitik zusammen: »Familiäre Bindungen werden nur unter bestimmten (engen) Voraussetzungen als Bleiberechtsgrund anerkannt, so daß Verwandte ohne staatliche Erlaubnis nach Deutschland kommen oder hier verbleiben (Stichworte: Beschränkung auf ›Kernfamilie‹, Forderung von Einkommens- und Wohnungsnachweisen usw.).
Nur bestimmte Fluchtgründe werden nach dem Gesetz bzw. in der Rechtsprechung als ›asylrelevant‹ angesehen (bis 2005 wurden z.B. nicht-staatliche oder geschlechtsspezifische Verfolgungshandlungen als asylrechtlich irrelevant betrachtet; auch Kindersoldaten, Kriegsflüchtlinge und Deserteure haben z.B. kaum Anerkennungschancen). Zudem kommt es in der Praxis der Asylverfahren nicht selten zu Fehlentscheidungen. Menschen, die eine begründete Furcht vor Verfolgung, Krieg oder eine existenzielle Notlage geltend machen, aber dennoch im Asylverfahren abgelehnt werden, verbleiben deshalb mitunter ohne behördliche Erlaubnis in Deutschland. (…)
Auch in der ausländerbehördlichen Praxis wird von Ermessensspielräumen zumeist nur restriktiv Gebrauch gemacht, obwohl die Betroffenen individuell gute und nachvollziehbare Gründe für ihren weiteren Aufenthalt vorbringen können (langjährig geduldete und faktisch integrierte Menschen, schwer traumatisierte Flüchtlinge, Lebenspartner/ innen, denen eine ›Scheinehe‹ unterstellt oder denen das Zusammenleben im Ausland zugemutet wird, die die erforderlichen Papiere nicht rechtzeitig beibringen können usw.). Auch der Verlust des Aufenthaltsrechts oder eine Ausweisung können der Grund dafür sein, daß Menschen ohne behördliche Erlaubnis weiter in Deutschland verbleiben.
Frauen, die nach Deutschland verschleppt und zur Prostitution gezwungen werden, können sich unter Umständen nur deshalb nicht aus ihrer Zwangslage befreien, weil sie für den Fall, daß sie gegen ihre Peiniger aussagen, damit rechnen müssen, (früher oder später) abgeschoben zu werden. Manche Frauen ziehen deshalb den ›illegalen‹ Aufenthalt einer bloßen Duldung für die Dauer eines belastenden Prozesses vor.
Sogenannte ›wirtschaftliche‹ Gründe – die Suche nach einer existenzsichernden Arbeit – berechtigen ohnehin nicht zur Einreise oder zum Aufenthalt in Deutschland, es sei denn, dies läge im ›deutschen Interesse‹. Das persönliche Interesse der Betroffenen zählt demgegenüber nichts. Diese legalen Bestimmungen können Migrationswillige jedoch nicht von ihrer Suche nach einem besseren Leben abhalten.«
Zustand der »Vogelfreiheit«
Die Linksfraktion zieht aus dieser Analyse den Schluß, daß das »in der Öffentlichkeit verbreitete, Angst erregende Zerrbild« über illegalisierte Menschen nicht zutreffe. Menschen ohne Papiere (»sans papiers«) würden sich sogar unauffälliger als die übrige Bevölkerung verhalten, zumal bereits eine einzige »Schwarzfahrt« oder eine Ampelüberquerung bei Rot für die Betroffenen das Ende ihres bisherigen Lebens und die gewaltsame Abschiebung bedeuten könne. Die Lebensumstände dieser Menschen seien dem mittelalterlichen Zustand der »Vogelfreiheit« nicht unähnlich. Von demokratischen Rechten seien »heimliche« Menschen dauerhaft ausgeschlossen. Selbst zu ihrer Situation könnten sie sich nicht angemessen öffentlich äußern; gerade deshalb würden die Probleme von Menschen ohne Papiere öffentlich nicht wahrgenommen.
Die Linksfraktion weist darauf hin, daß es in anderen europäischen Ländern zumindest Ansätze einer politischen Antwort auf die soziale Notlage der Betroffenen gibt. So hätten mehrere Staaten (z.B. Italien, Spanien, Portugal, Frankreich) diverse »Amnestieregelungen« getroffen. Zuletzt habe Spanien mehr als 500000 »sans papiers« ein Bleiberecht gewährt, allerdings in der Absicht, daß durch die Legalisierungsakte irreguläre in legale Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt würden und hierdurch das Steuereinkommen gesteigert würde.
Die Linksfraktion greift den Begriff einer »Globalisierung von unten« auf, die massiv kriminalisiert und bekämpft werde. Es gehe um Menschen »auf der Suche nach einem besseren Leben, auf der Suche nach Schutz vor Verfolgung, auf der Suche nach Wahrung ihrer Familieneinheit«. Die deutsche Politik sei in dieser Beziehung »immer noch nicht in der globalisierten Welt angekommen« (Zitat von Pater Dr. Jörg Alt). Solange »ungleiche soziale und ökonomische und gewaltsame Verhältnisse in der Welt existieren und Nationalstaatengrenzen sich zwischen die Menschen schieben, wird es Migration geben: wenn nicht mit, dann ohne behördliche Erlaubnis.«
Tödliche Migrationskontrolle
Gerade die aufenthaltsrechtlichen Regularien bringen nach Auffassung der Linksfraktion Abhängigkeits- und Gewaltverhältnisse erst hervor, die sie zu bekämpfen vorgeben, denn das sogenannte »Schlepperunwesen« sei eine direkte Folge zunehmend geschlossener Grenzen. Der »Preis« der europäischen Migrationskontrolle sei unerträglich hoch: »Tausende haben bereits ihr Leben verloren bei dem Versuch, die hochgerüsteten Grenzen Europas zu überwinden.« Schließlich wird daran erinnert, »daß es in Deutschland zahlreiche Profiteure des illegalisierten Status der Betroffenen gibt, da diese zumeist höchst unattraktive Arbeiten für eine geringe Entlohnung übernehmen müssen.«
Konkret fordert die Linksfraktion die Bundesregierung auf:
»1. die Wahrung der grundlegenden Menschenrechte von Personen ohne Aufenthaltstitel in der Praxis sicherzustellen. Hier ist vordringlich die Meldepflicht nach § 87 Abs. 2 AufenthG und die Strafbarkeit der humanitären Hilfe für Menschen ohne Aufenthaltstitel (§ 96 Abs. 1 AufenthG) aufzuheben. Den Opfern von Zwangsarbeit, Zwangsprostitution und Menschenhandel ist Schutz und ein sicherer Aufenthaltsstatus einzuräumen;
2. den Umgang mit illegalisierten Menschen zu entkriminalisieren und die Debatte um sie nicht vorrangig unter polizeistaatlichen Gesichtspunkten, sondern orientiert an den Menschenrechten zu führen. Die humanitäre Hilfe für illegalisierte Menschen (im Zusammenhang der Einreise und des Aufenthalts) ist deshalb straffrei zu stellen. Auch der Aufenthalt und die Einreise ohne behördliche Erlaubnis als solche dürfen nicht als Straftat angesehen werden;
3. rechtliche und politische Legalisierungsoptionen zu eröffnen. Menschen, die in Deutschland leben, soll unter Berücksichtigung ihrer persönlichen Interessen und humanitärer Erwägungen ein Aufenthaltsrecht gewährt werden können. Menschen, die bereits faktisch integriert sind, haben darüber hinaus auch ein Anrecht auf Bleiberecht und auf Achtung ihres Privatlebens in Deutschland (vgl. Art. 8 EMRK). Politisch oder exekutiv begründete Legalisierungsakte können bei einer Vielzahl vergleichbarer Fälle geeignet sein, um den Menschenrechten zur Durchsetzung zu verhelfen und zum gesellschaftlichen Frieden beizutragen, wobei darauf zu achten ist, daß staatliche »Amnestieangebote« in der Praxis nicht dazu genutzt werden dürfen, um die Erfassung und Abschiebung der bis zur Antragstellung noch klandestinen Menschen vorzubereiten. Ergänzend sollte sichergestellt werden, daß die Härtefallregelung nach § 23a AufenthG auch Menschen ohne Aufenthaltstitel offensteht und daß bei der humanitären Abwägung in diesen Fällen der »illegale« Aufenthalt der Betroffenen nicht negativ bewertet wird;
4. das bestehende Asyl- und Ausländerrecht möglichst offen auszugestalten und die persönlichen Interessen der Betroffenen im Verfahren angemessen zu berücksichtigen, weil so der strukturellen Illegalisierung von Menschen entgegengewirkt werden kann (in diesem Zusammenhang ist auch die Unterzeichnung bzw. vorbehaltlose Umsetzung der UN-Kinderrechts- und der UN-Wanderarbeiter/innen-Konvention zu fordern).«
Wege aus der Illegalität
Unterstützung aus der Wissenschaft kommt durch verschiedene in letzter Zeit veröffentlichte Forschungsergebnisse. Dem Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration hat Norbert Cyrus von der Universität Oldenburg 2004 die Studie »Aufenthaltsrechtliche Illegalität in Deutschland« vorgelegt.
Cyrus betont darin, daß aus der Perspektive des einzelnen Migranten aufenthaltsrechtliche Illegalität eine vorübergehende Lebensphase bedeute, die zumeist durch Rückkehr, Weiterwanderung oder Legalisierung individuell beendet werde. Aus der Perspektive der aufnehmenden Gesellschaft bilde aufenthaltsrechtliche Illegalität dagegen ein »dauerhaftes strukturelles Phänomen sozialer Unterschichtung«. Das herausragende Kennzeichen aufenthaltsrechtlicher Illegalität sei die Heterogenität rechtlicher und sozialer Lagen betroffener Personen. Ein angemessener politischer Umgang mit aufenthaltsrechtlicher Illegalität erfordere daher ein »differenziertes Konzept kleinteiliger Ansätze, die auf die komplexen Lagen paßgenau abgestimmt sind und unbeabsichtigte Folgen staatlichen Handelns vermeiden«.
Der Wissenschaftler betont, daß die »Zielländer illegaler Migration« durch ihre Außen-, Handels-, Wirtschafts- und Zuwanderungspolitik »Anteil an der Herausbildung der Systeme illegaler Migration« hätten. »Illegale Migration wird durch die politisch gesetzten Faktoren der Zugänglichkeit zum Territorium und der Anschlußfähigkeit im Inland systemisch strukturiert.«
Cyrus nennt vier Wege in die aufenthaltsrechtliche Illegalität: Neben der Einreise ohne Dokumente den »Mißbrauch« der visumsfreien Einreise, die Einreise mit gefälschten Dokumenten und die Einreise mit »erschlichenen« Visa. Die illegale Einreise ohne Dokumente sei im Verhältnis zu den anderen genannten Einreisemustern quantitativ eher gering und betreffe vor allem Flüchtlinge aus unsicheren Herkunftsstaaten. Illegale Migranten in Deutschland kämen aus Afrika, Asien, Amerika sowie Mittel- und Osteuropa. »Die quantitativ größte Gruppe bilden Arbeitsmigranten aus Mittel- und Osteuropa. Der EU-Beitritt von acht MOE-Staaten bekommt insofern die Funktion einer zumindest aufenthaltsrechtlichen Legalisierung, ohne daß das Problem der Integration dieser Arbeitsmigranten in die Schattenwirtschaft gelöst wird.«
Aufenthaltsrechtliche Illegalität sei in ganz Deutschland verbreitet. Es bestehe eine »Konzentration auf großstädtische Agglomerationen«. Bei der Altersstruktur liege der Schwerpunkt zwischen 20 und 40 Jahren. Alarmierend hoch sei die Zahl der Kinder, die in der Illegalität leben.
Der Anteil illegaler Ausländerbeschäftigung an der schattenwirtschaftlichen Wertschöpfung soll laut Cyrus bei schätzungsweise 13 Prozent liegen, wobei der Anteil in bestimmten Branchen wie dem Baugewerbe, der Landwirtschaft und dem Hotel- und Gaststättengewerbe sowie für von privaten Haushalten nachgefragte Dienstleistungen höher liege. Trotz ungünstigerer Lohn- und Arbeitsbedingungen könnten illegale Migranten das Mehrfache des Lohnes im Herkunftsland verdienen. »Die Rücküberweisungen der Migranten tragen zum Ausgleich bestehender Außenhandelsbilanzdefizite bei.«
Cyrus kritisert, daß aufenthaltsrechtliche Illegalität ausschließlich als ordnungs- und sicherheitspolitisches Problem gesehen und dargestellt werde. Betont werde die Notwendigkeit, die Rechtsordnung zu schützen, obwohl von der Europäischen Kommission bereits in den siebziger Jahren ein politischer Ansatz verfolgt worden sei, den Schutz der Rechtsordnung sicherzustellen, indem illegale Migranten geschützt werden.
Als politische Optionen empfiehlt Cyrus daher: »Repressive Maßnahmen allein können aufenthaltsrechtliche Illegalität nicht verhindern, führen aber zu humanitären und menschenrechtlichen Problemlagen. Statt dessen wird durch eine intelligente Kombination kleinteiliger Lösungen darauf hingewirkt, aufenthaltsrechtliche Illegalität zu verhindern, menschenunwürdige Situationen zu vermeiden und negative Erscheinungsformen wie die Entstehung rechtsfreier Räume oder die Ausbreitung der Schattenwirtschaft auf Kosten der formellen Wirtschaft zu begrenzen.«
Durch gezielte Maßnahmen und Programme sollten Anreize zur Ausbeutung illegaler Migranten konsequent zurückgedrängt werden.
Zur Verringerung illegaler Migration könnten legale Einreise- und Aufenthaltsmöglichkeiten erweitert werden.
Hinsichtlich der medizinischen Mindestversorgung empfiehlt Cyrus das niederländische Fondsmodell, woraus Ärzte und Krankenhäuser die Kosten für die Behandlung illegaler Einwanderer erstattet bekommen. Schließlich sollte Menschen, deren illegaler Aufenthalt sich verfestigt hat, unter bestimmten Bedingungen ein Ausweg aus der aufenthaltsrechtlichen Illegalität eröffnet werden, um eine dauerhaft menschenunwürdige Situation zu vermeiden.
Die Sündenbocktheorie
Hauptsächlich fiskalisch argumentiert dagegen der am 31. März 2006 veröffentlichte Forschungsbericht von Annette Sinn, Axel Kreienbrink und Hans Dietrich von Loeffelholz, »Illegal aufhältige Drittstaatsangehörige in Deutschland: Staatliche Ansätze, Profil und soziale Situation«, erstellt für das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Die Autoren verweisen auf die Ausfälle bei den Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen durch Schwarzarbeit. Zynisch wirkt der Hinweis auf den erhöhten Kontrollaufwand der Behörden, wobei im Anschluß an die Berliner Studie von Karen Schönwälder, Dita Vogel und Giuseppe Sciortino »Migration und illegalität in Deutschland« (2004) eingeräumt wird, daß es umstritten sei, ob die für Kontrollen getätigten Ausgaben als Kosten illegaler Migration angesehen werden könnten.
Die Studie räumt auch ein, daß die Schattenwirtschaft in der BRD insgesamt nicht durch illegale Ausländerbeschäftigung bestimmt sei, sondern überwiegend durch inländische Schwarzarbeiter. Die Illegalisierten würden zur informellen Wertschöpfung in Deutschland jährliche Beträge von rund 45 Milliarden Euro oder zirka zwei Prozent des Inlandsprodukts leisten. Die damit verbundenen Ausfälle an Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen werden auf zirka acht Milliarden Euro veranschlagt.
Der Studie von Karen Schönwalder folgend kommt auch der Forschungsbericht des BAMF zu der Einschätzung, daß die »pauschale Annahme einer Gefährdung der Löhne und Arbeitsplätze von Einheimischen durch illegale Migration« nicht berechtigt sei. Allerdings seien gerade für gering Qualifizierte in bestimmten Sektoren durch die Verfügbarkeit billigerer Arbeitskräfte negative Effekte denkbar, etwa im Baugewerbe, »neuerdings möglicherweise im Transport-und Speditionsgewerbe sowie im Bereich der Schlachthöfe«.
Dabei wird aber immer wieder vergessen, daß es Unternehmer sind, die sich nicht an tarifliche und gesetzliche Vorgaben halten und so die verschiedenen Gruppen der Arbeitssuchenden gegeneinander ausspielen. Eigenartig mutet auch die Schlußfolgerung der BAMF-Studie an, daß »die Verfügbarkeit von illegaler Beschäftigung die Notwendigkeit reduziert, im nationalen und internationalen Wettbewerb arbeitssparende Investitionen vorzunehmen und Innovationen voranzutreiben. Dadurch werden der sektorale Strukturwandel in Deutschland und damit die gesamtwirtschaftliche Produktivitäts- und Einkommensentwicklung verlangsamt. Dies verlangsamt letztlich das Wirtschaftswachstum und läßt längerfristig die legale Beschäftigung und den Lebensstandard weniger zunehmen als ohne illegale Beschäftigung.«
Damit wird doch wieder die gängige Sündenbockfunktion bemüht. Erfreulich klar formulieren dagegen Karen Schönwälder, Dita Vogel und Giuseppe Sciortino: »Signifikante Belastungen für den deutschen Sozialstaat und die öffentlichen Haushalte entstehen aktuell durch die illegale Migration nicht, u. a. da kaum Sozialleistungen in Anspruch genommen werden.« Man kann nur hoffen, daß die Sachverständigenanhörung des Bundestags am 26. Juni 2006 zu einem rationalen Umgang mit dem Thema beiträgt.
Aus: junge welt vom 04. Mai 2006