Rede am 22. Juni 2006, 39. Sitzung des 16. Deutschen Bundestages, Tagesordnungspunkt 11 (Haushaltsdebatte zu Einzelplan 06 – Bundesministerium des Innern)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke, Fraktion Die Linke.
(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Repressionsapparat!
Das Repressionsopfer Jelpke!)
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!
Auf den Repressionsapparat werde ich noch zu sprechen
kommen. Keine Angst.
(Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit bei Abgeordneten
der CDU/CSU)
Die Integrationspolitik ist eine der größten Aufgaben, vor denen die Bundesrepublik steht. Wenn wir aber die Politik der Bundesregierung in Sachen Integration anschauen, dann kann man eigentlich nur feststellen, dass sie darauf ausgerichtet ist, keine Angebote zu machen und vor allen Dingen zu schikanieren.So wird regelmäßig die Bedeutung von guten Deutschkenntnissen beschworen. Doch die meisten Kurse sind so überfüllt, dass auf die individuelle Ausgangssituation der Teilnehmer nicht eingegangen werden kann. Die Kritik, die die Träger der Kurse an der schon bestehenden Unterfinanzierung üben, Herr Luther, stößt bei der Bundesregierung auf taube Ohren. Vollmundig wurde versprochen, keine Kürzungen bei den Mitteln für Sprachkurse vorzunehmen.
Doch genau diese Kürzungen sind weiter im Haushalt vorgesehen. Im Juli will die Bundeskanzlerin einen Integrationsgipfel abhalten. Herr Faruk Sen, der Leiter des Zentrums für Türkeistudien, hat dazu erklärt, diese Veranstaltung illustriere lediglich die Konzeptionslosigkeit der Integrationspolitik der Bundesregierung. Eine fundierte Vorbereitung habe es nicht gegeben, Migrationsorganisationen
seien weitgehend nicht repräsentiert. Faruk Sen kommt zu dem Schluss, der Gipfel habe nur eine Feigenblattfunktion. Ich muss ihm da leider Recht geben. Integrationspolitik – das können die Minister der Kanzlerin bestellen – erschöpft sich eben nicht darin, Einwanderer unter Strafandrohung in überfüllte Deutschkurse zu zwingen. Sprache zu erlernen, ist wichtig; das betone ich hier. Aber eine gescheiterte Integration können Sie nicht nur auf fehlende Sprachkenntnisse zurückführen.
(Beifall bei der LINKEN und der FDP)
Sie nehmen hier eine, gelinde gesagt, unterkomplexe Betrachtung vor. Migranten sind in vielen Bereichen unserer Gesellschaft benachteiligt. Der letzte Bericht zur Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland hat gezeigt: Von den negativen Entwicklungen am Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik sowie von der zunehmenden sozialen Selektion im Bildungssystem sind Menschen mit Migrationshintergrund besonders betroffen.
Gute Integrationspolitik ist unserer Auffassung nach in erster Linie eine gute Sozialpolitik. Für diese Bundesregierung sind freilich beides Fremdworte. Sie beschränkt sich in beiden Politikbereichen darauf, noch mehr Kürzungen, noch mehr Repressionen und noch mehr Kontrollen einzuführen. In die Zukunft weisende Vorstellungen hat sie leider nicht. Das gilt insbesondere, aber leider nicht nur für
Edmund Stoiber, den Prokonsul aus München. Als Signal für eine ernst gemeinte Integrationspolitik will er jetzt den so genannten Gotteslästerungsparagrafen, § 166 des Strafgesetzbuches, verschärfen. Auf eine Herausforderung der modernen Gesellschaft reagiert er mit dem Rückgriff auf einen Zensurparagrafen des Kaiserreichs. Das zeigt exemplarisch die Ratlosigkeit der Regierungsparteien.
Das zeigt aber auch, was Sie unter Leitkultur verstehen: Repression statt Freiheit.
Dass Migranten von der Bundesregierung im Kampf gegen den Terrorismus als Bedrohung beschrieben werden, hat fatale Folgen. In den letzten Wochen häufen sich gewalttätige Angriffe auf Menschen, die ihren Peinigern nicht weiß und nicht deutsch genug sind. Der Verfassungsschutz gibt an, dass die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttaten um 23,5 Prozent und die der Straftaten insgesamt sogar um 27,5 Prozent gestiegen ist. Die Zahlen sind erschreckend. Sie sind eine Herausforderung für die Demokratie.
Auch hier fehlt der Bundesregierung jedes Konzept. Sie will den Verfassungsschutz umbauen und die Abteilung für den so genannten Linksextremismus mit der Abteilung für Rechtsextremismus zusammenlegen. Dazu fällt mir nur ein: Wenn zwei Dumme sich zusammentun, sind sie auch nicht schlauer als vorher.
(Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie uns damit sagen? –
Zuruf von der SPD: Das Zitat ist gefährlich!)
– Sie können sich gerne darüber aufregen. Aber ich kann die Einseitigkeit, die hier immer wieder zur Schau getragen wird, wenn es um den so genannten Extremismus geht, wirklich nicht anders bezeichnen.
Die Unzulänglichkeit des Verfassungsschutzes ist schon eine Legende. Er fasst in seinem Bericht lediglich Daten zusammen, die wir im Übrigen bereits durch das Bundeskriminalamt kennen.
Der Bundesverfassungsschutz malt ständig das Gespenst vom Linksextremismus an die Wand und bezeichnet Friedensgruppen und Überlebende des NS-Regimes als Verfassungsfeinde.
Auf der anderen Seite kann man im Verfassungsschutzbericht 2005 lesen, wie sehr verharmlost wird. Der Bericht betont – ich zitiere – „die grundsätzlich vorhandene Gewaltaffinität der Szeneangehörigen“. Es seien wiederholt Waffen gefunden worden, auch fände paramilitärisches
Training statt. Aber Anhaltspunkte für terroristische Absichten von Rechtsextremisten lägen nicht
vor.
Da werden also Waffen und Sprengstoff gefunden. Da werden Wehrsportübungen durchgeführt. Da hat die Gruppe „Freikorps Havelland“ einen ganzen Landstrich mit Brandanschlägen überzogen. Da kommt es in Berlin, Rheinsberg, Magdeburg, Dortmund und in vielen anderen Städten in Ost und West regelmäßig zu Übergriffen mit Verletzten und Toten. Da gibt es Zonen, in die sich Menschen, vor allen Dingen Menschen mit ausländischer Herkunft, nicht mehr trauen. Das ist der alltägliche Terror, den Neofaschisten ausüben. Aber der Innenminister erklärt in gespielter und dreister Ahnungslosigkeit, es gebe keine Angstzonen – offensichtlich, weil es sie nicht geben darf. Machen Sie doch einmal die Augen auf, Herr Schäuble!
Werte Kollegen, ich begrüße es, dass unsere Proteste zumindest dazu geführt haben, dass weitere Kürzungen der Mittel für die Bundeszentrale für politische Bildung verhindert werden konnten.
(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Bitte keine Selbstüberschätzung! Es gibt immer noch Dinge, die wir ganz alleine entscheiden können!
– Weiterer Zuruf von der SPD: Wie bitte? Dafür haben wir Sie nun wirklich nicht gebraucht!)
– Nehmen Sie meine Kritik trotzdem zur Kenntnis! – Der Haushaltsansatz für die Bundeszentrale für politische Bildung verharrt allerdings auf niedrigem Niveau. Die Stärkung des demokratischen Bewusstseins erreicht man nicht durch Repression und durch den Abbau von Grundrechten im Kampf gegen die vermeintlichen oder echten Feinde der Demokratie. Das ist genau der falsche Weg.
Wir brauchen eine detaillierte Analyse der Bedrohungen der Demokratie und der Grundrechte. Die Fraktion Die Linke fordert deswegen die Einrichtung einer unabhängigen Beobachtungsstelle für Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus, die vom Bundestag im Übrigen schon einmal beschlossen wurde.
(Beifall bei der LINKEN)
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Jelpke, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Vor allen Dingen fordern wir, dass Projekte wie die „Opferperspektive“ und die „Mobilen Beratungsteams“ weiterhin, also auch im Jahre 2007, finanziert werden.
(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo bleibt der Repressionsapparat?)
Im Übrigen möchte ich auf eines aufmerksam machen:
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Frau Jelpke, Sie müssen zum Ende kommen.
Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Wenn die Bundesregierung durch ihre Politik endlich dafür sorgen würde, dass deutsche Polizisten die Nazis auf der Straße nicht mehr schützen müssten, dann wären wir, was die Bekämpfung der Übergriffe und Angriffe von Neonazis angeht, schon viel weiter.