Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir reden hier über ein Thema, das jede Bürgerin und jeden Bürger betreffen kann. Es sind nicht nur Schwerkriminelle, deren Telefone abgehört werden. 35 000 neue Anordnungen ergingen allein im Jahre 2005, und jährlich werden es leider mehr. Steigerungsraten von 600 Prozent in den letzten zehn Jahren sind wahrlich Spitzenleistungen. Aber es sind extrem zweifelhafte, Frau Ministerin.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))
Denn betroffen sind auch Menschen, die, ohne es zu wissen, mit Verdächtigen telefonieren oder von abgehörten Apparaten aus angerufen werden. Auf 1,5 Millionen Menschen hat das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht die Gesamtzahl der Betroffenen geschätzt. Das sind 1,5 Millionen Grundrechtseingriffe.
Die Telefonüberwachung widerspricht klaren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. Es hat im März 2004 den großen Lauschangriff, also das Abhören von Wohnungen, kassiert. Die im Urteil dargelegten Grundsätze gelten auch für die Telefonüberwachung. Aber sie werden leider nicht umgesetzt. Nun wird sogar der Ruf laut, Telefonüberwachungen auf bloßen Verdacht zu erlauben. Herr Schäuble plant sogar sogenannte Onlinedurchsuchungen. Was technisch geht, will die Regierung umsetzen, und zwar ohne Rücksicht auf die Rechte der Bürgerinnen und Bürger.
(Joachim Stünker (SPD): Na, na, na!)
Die Flut der Telefonüberwachungen schwemmt die rechtsstaatlichen Vorschriften regelrecht hinweg. Erstens. Die Überwachungsanträge müssen eigentlich richterlich überprüft werden. Das ist der entscheidende Punkt, Herr Gehb. Aber meistens wiederholen die Richter nur das, was ihnen der Staatsanwalt auf den Tisch gelegt hat.
(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Sie lesen auch nur das vor, was Ihnen Ihre Mitarbeiter aufgeschrieben haben!)
Hören Sie genau zu! In einer Studie der Wissenschaftler Otto Backes und Christoph Gusy heißt es:
Das Material der Staatsanwaltschaft belässt der Richter in 25 % der Fälle fehlerhaft, wie es ist, etwa jeden zehnten Antrag bringt er auf gesetzeskonformen Stand, oder aber er produziert selbst fehlerhafte Beschlüsse (30 %).
(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Richter sind doch keine Automaten!)
Herr Gehb, das heißt, die Anträge werden heutzutage nicht einmal ordentlich geprüft. Das wäre aber das Mindeste.
Zweitens. Der Rechtsschutz wird übergangen. Wer abgehört wird, muss anschließend informiert werden, damit er oder sie sich vor Gericht wehren kann. Aber in zwei Drittel der Fälle werden diese Informationen nicht weitergegeben, wie Herr van Essen bereits dargelegt hat.
Drittens. Die Überwachungen sind häufig unverhältnismäßig. Im Bereich der Kapitalverbrechen sind laut Max-Planck-Institut nur rund 30 Prozent der Maßnahmen erfolgreich. Wir, die Linke, meinen dazu: Es wird viel zu viel abgehört und fehlerhaft geprüft. Diese Entwicklung muss rückgängig gemacht werden.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))
Das Neue und das Entscheidende des Urteils zum großen Lauschangriff ist: Jede Bürgerin und jeder Bürger hat einen Anspruch darauf, dass er oder sie im Kernbereich der privaten Lebensgestaltung von staatlichen Maßnahmen verschont bleibt. Jeder hat ein Recht auf Privatsphäre. Das gilt für die eigene Wohnung und natürlich auch für Telefongespräche mit den engsten Familienangehörigen. Das wollen Sie offensichtlich nicht wahrhaben. Wenn aber das Bundesverfassungsgericht erklärt: „Die Privatsphäre hat privat zu bleiben“, dann muss das von diesem Haus respektiert und gesetzlich umgesetzt werden.
Nun hat das Bundesverfassungsgericht nicht jede Abhörmaßnahme für unzulässig erklärt. Aber es hat Hürden aufgestellt. Diese werden dauernd unterlaufen. Eines ist klar: Wenn man schon den Grundrechtsschutz für Tatverdächtige aufhebt, dann muss sich das auf Einzelfälle beschränken, zum Beispiel auf Kapitalverbrechen, auf die Höchststrafen von fünf Jahren und mehr stehen. Die Praxis sieht mit über 42 000 Abhörgenehmigungen allein im Jahr 2005 leider ganz anders aus. So viele Kapitalverbrechen gibt es in Deutschland nun wirklich nicht. Wer Hanfpflanzen anbaut oder verkauft, wird heutzutage genauso abgehört wie der Waffenschieber, der am Massenmord verdient oder ihn vorbereitet. Hier muss das Gesetz gründlich entrümpelt werden.
Meine Damen und Herren, nötig wäre endlich eine Gesamtreform; die Ministerin hat sie heute angekündigt. Ob Telefone oder Wanzen in Wohnungen: Der Schutz der Privatsphäre das kann man nicht oft genug wiederholen muss gewahrt bleiben.
(Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Auch auf Kuba!)
Das ist unsachlich.
(Zuruf von der CDU/CSU: Ihre Rede doch auch!)
Doch was die Grünen hier vorlegen, ist unserer Meinung nach eine bürgerrechtliche Kapitulationserklärung, Herr Montag.
(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Viele Punkte, die Sie in Ihrem Beitrag hier vorgetragen haben, teile ich voll, aber Ihre Lösung geht unseres Erachtens am Kern der Probleme vorbei.
(Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt bin ich gespannt!)
Die Unverhältnismäßigkeiten bei den Überwachungsanordnungen bleiben bei Ihnen bestehen. Sie wollen auch künftig Straftaten abhören lassen, die definitiv keine Kapitalverbrechen sind. Das wird mit uns nicht gehen.
Dagegen enthält der FDP-Antrag einige wichtige Punkte. Sie sagen zum Beispiel, man könne nicht immer neue Überwachungsmethoden austüfteln, ohne die alten wenigstens auf ihre Wirksamkeit überprüft zu haben. Dem stimmen wir voll zu.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))
Auch die Forderung nach einer gründlichen Auswertung der Überwachungen und nach einer Berichtspflicht der Bundesregierung teilen wir voll. Wenn es darum geht, Bürgerrechte wiederherzustellen, dann arbeiten wir daran gerne mit. Wie Herr van Essen sagte: Auch wir sind bereit, der Regierung Beine zu machen.
Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))
Drucken