Am Montag gab es erneut Rangeleien zwischen Autonomen und der Polizei in Rostock. Anlaß: Rund 1000 Demonstranten forderten vor dem »Sonnenblumenhaus« im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen bei einer friedlichen Kundgebung mehr Bewegungsfreiheit für Migranten und eine Umkehr in der Asylpolitik. 1992 hatten Neonazis dieses Haus, in dem vietnamesische Flüchtlinge wohnten, tagelang unter dem Beifall von Anwohnern angegriffen. Der Plattenbau wurde in Brand gesetzt.
Unterdessen nutzen vor allem Hardliner aus CDU/CSU und Polizeifunktionäre die Debatte über die gewaltsamen Auseinandersetzungen auf der Großdemonstration gegen den G-8-Gipfel vom Samstag für ihre eigenen politischen Zwecke. Sie übertreffen sich gegenseitig mit markigen Sprüchen und Forderungen nach der »vollen Härte des Gesetzes«, um den friedlichen Protest zu kriminalisieren. Die öffentliche Meinung war bisher eindeutig auf seiten der G-8-Gegner; in Umfragen waren die behördlichen Einschränkungen der Versammlungsfreiheit überwiegend als zu weitgehend bewertet worden.
Bayerns Innenminister Günther Beckstein (CSU) sieht nun seine Stunde gekommen, die öffentliche Meinung umzudrehen. In geradezu zynischer Weise machte der designierte bayerische Ministerpräsident die Veranstalter der Demonstration für die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Autonomen verantwortlich. »Sie haben nicht genügend Ordner gehabt. Sie haben nicht durchgesetzt, daß ihre eigene Demonstration friedlich abgelaufen ist«, erklärte der CSU-Politiker am Montag im Bayerischen Rundfunk. Daraus ergebe sich »eine hohe moralische Mitverantwortung der Veranstalter«.
Hohe Mitverantwortung liegt jedoch – was Beckstein verschweigt – in der repressiven Politik des Bundesinnenministeriums, der Generalbundesanwältin und der Behörden in Mecklenburg-Vorpommern. Es ist einleuchtend, daß überzogene Sicherheitsvorkehrungen die Stimmung erst richtig anheizen. Ebenso klar ist, daß das großräumige Demonstrationsverbot, die Aussperrung von Journalisten und die Androhung von »Unterbindungsgewahrsam« dazu beigetragen haben, den Aggressionspegel nach oben zu treiben.
Dasselbe gilt für das überaus harte und teilweise provokante Einschreiten der Polizei in Rostock. Manche Beamte sprühten geradezu rasend mit Tränengas um sich. Wenn von 1000 Verletzten die Rede ist, darf nicht übersehen werden, daß sich darunter Hunderte Demonstranten befinden, die durch Wasserwerfer, Gummiknüppel oder Tränengas zu Schaden gekommen sind. Es müßte auch rasch geklärt werden, ob Beobachtungen von Augenzeugen zutreffen, wonach sich Steinewerfer zuvor mit Polizeiführern getroffen haben sollen. Wenn sich das tatsächlich zugetragen haben sollte, würde das bedeuten, daß Polizisten von Provokateuren aus den eigenen Reihen angegriffen wurden.
Eine differenzierte Analyse ist derzeit nicht zu haben und eine Strategie der Deeskalation kaum durchzusetzen. Pauschal fordert der Ministerpräsident von Mecklenburg-Vorpommern, Harald Ringstorff (SPD), »potentielle Gewalttäter« vorbeugend in Haft zu nehmen. Beckstein plädiert ebenfalls für ein härteres Vorgehen. »Wer zum Beispiel Tränengas in der Tasche hat, muß bis zum Ende des G-8-Gipfels in Unterbindungsgewahrsam genommen werden«, fordert er.
Solche Äußerungen sollen auch Druck auf das Bundesverfassungsgericht ausüben, damit es seine seit der Brokdorf-Entscheidung von 1984 demonstrationsfreundliche Linie aufgibt. In Karlsruhe liegt seit Montag früh ein Eilantrag gegen das Demonstrationsverbot um den G-8-Tagungsort Heiligendamm vor. Die Anmelderinnen und Anmelder der Kundgebungen wollen erreichen, daß die während des Gipfels rund um den Zaun geltende Bannmeile von sechs Kilometern Breite aufgehoben wird und der Sternmarsch am Donnerstag wie geplant stattfinden kann. Der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Gottfried Mahrenholz, erwartet einen Erfolg der G-8-Gegner beim höchsten deutschen Gericht. Nach der bisherigen Rechtsprechung in Karlsruhe dürfe das Ziel der Demonstration »legitimerweise und vom Grundgesetz her der Ort der Veranstaltung sein«, erklärte Mahrenholz gestern im Deutschlandradio.
Zuerst erschienen: junge Welt 5.6.2007