Ein weiterer Missstand: die große Koalition aus CDU/CSU und SPD geht häufig bei der Umsetzung von EU-Richtlinien über die zwingend gebotenen Regelungsinhalte hinaus. Am 14. Juni 2007 stimmte die Bundestagsmehrheit gegen alle drei Oppositionsfraktionen einem fast fünfhundert Seiten starken Gesetzespaket zum Zuwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrecht zu. Anlass war die Umsetzung von zehn EU-Richtlinien. Dabei wurden zahlreiche „hausgemachte“ Verschärfungen zu Lasten von Flüchtlingen und Migranten in das Gesetz eingefügt, die mit den EU-Vorgaben gar nichts zu tun hatten. So wird künftig der Ehegattennachzug erschwert, indem Kenntnisse der deutschen Sprache noch im Herkunftsland nachgewiesen werden müssen. Diese ausschließlich zur Abschottung ersonnene Schikane war eine Initiative der CDU/CSU, bei der die SPD mitgemacht hat. Von der EU war dies nicht verlangt worden.
Das jüngste Beispiel für diese Tendenz, wegen angeblicher EU-Vorgaben Verschärfungen zu beschließen, ist die geplante Umsetzung eines EU-Rahmenbeschlusses zum Sexualstrafrecht (BT-Drucksache 16/3439). Die Ziele dieser Richtlinie sind durchaus zu begrüßen, nämlich eine verbesserte Bekämpfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie. Gleichwohl schießt die Bundesregierung mit ihrem Entwurf weit über das Ziel hinaus. Sie hat ein Gesetz vorgelegt, das den Geist der rigiden Sexualmoral der spießigen Fünfziger Jahre atmet.
Dies war die Auffassung von fast allen Sachverständigen bei einem Experten-Hearing des Rechtsausschusses des Bundestags am 18. Juni 2007. Sie kritisierten vor allem die Anhebung des Schutzalters bei der Kinderpornografie von 14 auf 18 Jahre. In der Gleichsetzung von kinder- und jugendpornografischen Schriften liege die größte Schwachstelle des Gesetzesvorhabens, erklärte Prof. Tatjana Hörnle von der Ruhr-Universität Bochum.
Im juristischen Sprachgebrauch reicht das Kindesalter bis zum vollendeten 14. Lebensjahr. Die 15- bis 18jährigen werden als Jugendliche eingestuft. Als Kinderpornografie war demnach bisher die Verbreitung, der Besitz und der Erwerb von Schriften über sexuelle Handlungen von Kindern (unter 14 Jahren) strafbar. Künftig werde „ein 17jähriger junger Mann grundsätzlich genauso behandelt wie ein fünfjähriges Kind“, monierte bei der Anhörung der Wiener Rechtsanwalt Helmut Graupner. Die absurde Folge der von der Bundesregierung geplanten Neuregelung: ein 17jähriger junger Mann, der von seiner gleichaltrigen Freundin ein erotisches Foto macht und für sich aufbewahrt, ist künftig wegen Kinderpornographie strafbar. Es ist offensichtlich verfehlt, wenn sich der Staat sich auf diese Weise mit der Keule des Strafrechts in das Privatleben fast erwachsener junger Menschen einmischt. Das wird auch nicht dadurch besser, dass der entsprechende Straftatbestand in Zukunft nicht mehr nur „Kinderpornographie“, sondern „Kinder- und Jugendpornographie“ heißt. Übrigens wären nach dem Wortlaut des Gesetzentwurfs auch 16- und 17jährige Jugendliche, die einvernehmlich innerhalb einer sexuellen Beziehung pornographisches Material von sich herstellen, strafbar. Die Zustimmung beider Partner führt also nicht zur Straflosigkeit.
Prof. Kristian Kühl von der Tübinger Eberhard-Karls-Universität stellte infrage, ob 16-oder 17-jährige Jugendliche tatsächlich den strafrechtlichen Schutz vor sexuellem Missbrauch bräuchten. Sexuell gereifte Personen könnten sich selbst schützen. Allenfalls könne man individuell je nach dem persönlichen Entwicklungsstand des Jugendlichen entscheiden, ob er strafrechtlichen Schutz benötige. Helmut Graupner ging mit seiner Kritik noch weiter. Er sah die Möglichkeit zur sexuellen Selbstbestimmung von Jugendlichen durch den Gesetzentwurf nicht mehr ausreichend gewahrt. Nach Meinung des Sachverständigen regle der Entwurf Dinge, die allein den persönlichen Bereich betreffen. Das österreichische Recht sei hier deutlich großzügiger. Für bedenklich hielt auch Philipp Andreas Thiee von den Strafverteidigervereinigungen e.V. aus Berlin die Vermischung von Kindern und Jugendlichen im Entwurf.
Auch das Thema der „Scheinjugendlichen“ wird in dem Entwurf falsch angepackt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist der Tatbestand der Kinderpornographie nach bisheriger Gesetzeslage auch dann gegeben, wenn beispielsweise eine 15jährige in anzüglicher Pose fotografiert wird, die aber aus der Sicht eines objektiven Betrachters noch wie ein Kind wirkt, also wie eine unter 14jährige. Rechtsanwalt Thiee erklärte, dies mache in Bezug auf Kinder ja noch einen Sinn. Bei der neuen Altersgrenze von 18 Jahren sei dies aber völlig unverständlich. Künftig liegt nämlich Kinderpornographie sogar dann vor, wenn eine 19jährige Frau, also eine Erwachsene, ein erotisches Foto von sich machen lässt, sofern diese junge Frau wie eine 17-Jährige wirkt. Anwalt Thiee betonte: „Hier ist Rechtsunsicherheit vorprogrammiert und das bei dem wohl mit am meisten stigmatisierenden Tat bestand des StGB“. Der EU-Rahmenbeschluss würde es übrigens zulassen, in diesen Fällen auf eine Strafbarkeit zu verzichten, aber dies passt nicht in die rigide Linie der Bundesregierung.
Sogar Oberstaatsanwalt Ralf Wehowsky vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe musste am Ende zugeben, dass sich aufgrund der Gleichstellung von Kindern und Jugendlichen der Straftatbestand erheblich erweitern werde. Die Erkenntnis aus den Siebziger Jahren, dass eine sexuelle Entwicklung jedenfalls ab einem gewissen Alter ungestört von staatsanwaltschaftlichen Nachforschungen ablaufen solle, wird von der Bundesregierung ohne Not über Bord geworfen. Prof. Florian Jeßberger von der Berliner Humboldt-Universität brachte es auf den Punkt: Die Regierung habe eine EU-Richtlinie zum Anlass für weitere Strafrechtsverschärfungen genommen.
Das geht sogar über den Bereich der Sexualdelikte hinaus. Ohne inneren Bezug zum Thema Kinderschutz wurde in die Regelungen auch noch hineingepackt, dass künftig Falschaussagen vor internationalen Gerichten, die die BRD völkerrechtlich anerkannt hat, strafbar sein sollen. Das mag ja richtig sein, hat aber in diesem Gesetzgebungsverfahren nichts zu suchen.
Gleichzeitig wird künftig der „große Lauschangriff“ ohne weitere Begründung auch auf den Verdacht des Besitzes jugendpornographischer Schriften ausgeweitet. Philipp Thiee von den Strafverteidigervereinigungen e.V. nahm dies zum Anlass für grundsätzliche Anmerkungen. „Die zunehmende Unkontrollierbarkeit sog. neuer Medien führt zu der diffusen Angst, dass sich in den Labyrinthen vernetzter Datenströme unfassbare Verbrechen verbergen könnten. Diese Angst steigert sich z.T. zu regelrechter Panik, der mit einer strafrechtlichen Kontrolle begegnet wird, die kein geeigneter Steuermittel darstellt.“ Zu kritisieren sei nicht die Sorge um die Opfer von Sexualvergehen, „aber eine Kontrollpolitik, welche die Sicherheit, die sie verspricht, nur einlösen könnte, wenn sie eine flächendeckende, quasi totalitäre Inhaltskontrolle der Kommunikation gewährleisten könnte.“ Thiee warnte davor, dass Angst, so berechtigt sie sein möge, nicht Regie in der Strafrechtspolitik führen dürfe.
Unter dieser Prämisse lehnten die Sachverständigen auch das Vorhaben der Bundesregierung ab, den Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen (§ 182 StGB) zu erweitern. Bisher sind nach dieser Vorschrift sexuelle Handlungen an oder vor Jugendlichen unter 16 Jahren strafbar. Diese Altersgrenze soll entfallen. Als Täter kommen nach geltendem Recht nur Erwachsene (über 18 Jahren) in Betracht. Auch dies wird gestrichen. Künftig soll also auch der sexuelle Missbrauch gegenüber 16- und 17jährigen Jugendlichen strafbar sein, und zwar auch für Täter, die selber noch Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren sind. Rechtsanwalt Graupner kommentierte: „Jugendliche Opfer werden wie Kinder behandelt, jugendliche Täter wie Erwachsene“. Eine völlig unnötige Kriminalisierung von Jugendlichen, die auf dem Weg der sexuellen Selbstfindung sind, wird die Folge sein.
Schließlich wies Rechtsanwalt Thiee nach, dass auch bei der heiklen Thematik der Pädophilie der Gesetzentwurf missglückt ist. Künftig werde die „subjektiv empfundene sexuelle Einfärbung“ einer bildlichen Darstellung zu einer Sonderstrafbarkeit für Menschen führen, die an pädosexuellen Neigungen leiden. Thiee führte das Beispiel eines Versandhauskatalogs mit Abbildungen von Kindern in Bademoden an. Es könne nicht sein, dass sich ein Pädosexueller schon dann strafbar mache, wenn er sich durch solche Abbildungen sexuell stimuliert fühle. Zu bestrafen seien Handlungen, nicht aber bloße Phantasien.
Insgesamt führt wieder einmal bei einem wichtigen Thema der Vorwand, man müsse europäisches Recht umsetzen, dazu, dass ein wichtiges Thema nicht sachgerecht von der Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen der CDU/CSU und SPD behandelt wird, sondern eine verstaubte Ideologie und überholte Sexualmoral von einer Mehrheit des Bundestags übernommen und in Gesetzesform gegossen wird. Dies widerspricht eindeutig den Interessen der Betroffenen.