Dafür ein Beispiel: Der Bundestag war einhellig der Meinung, daß es unzulässig sei, Telekommunikations-Verbindungsdaten für polizeiliche Zwecke auf Vorrat zu speichern. Darüber setzte sich die Bundesregierung hinweg und stimmte einer EU-Richtlinie zu, mit der genau dieser Eingriff in die Privatsphäre von Millionen unverdächtiger Bürgerinnen und Bürger verlangt wird. Da Einstimmigkeit erforderlich war, wäre ohne die Zustimmung der Bundesregierung die Richtlinie nicht zustande gekommen. Nunmehr argumentiert die Bundesregierung, die BRD sei verpflichtet, diese EU-Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Mit anderen Worten: Auf dem Umweg über die EU hat die Bundesregierung eine Regelung zur Vorratsdatenspeicherung erreicht, die der Gesetzgeber ursprünglich so nicht gewollt hat.
Häufig geht die große Koalition aus CDU/CSU und SPD bei der Umsetzung von EU-Richtlinien über deren zwingende Vorgaben hinaus. Am 14. Juni 2007 stimmte die Bundestagsmehrheit gegen alle drei Oppositionsfraktionen einem fast fünfhundert Seiten starken Gesetzespaket zum Zuwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrecht zu. Damit sollten zehn EU-Richtlinien in deutsches Recht umgesetzt werden Die Koalition packte aber zahlreiche Bestimmungen zu Lasten von Flüchtlingen und Migranten mit hinein, die mit den EU-Vorgaben nichts zu tun hatten. So wird künftig eine Frau ihrem Ehemann, der in Deutschland Aufenthaltsrecht hat, nur dann folgen dürfen, wenn sie noch im Herkunftsland Kenntnisse der deutschen Sprache nachweist. Diese ausschließlich zur Abschottung ersonnene Schikane war eine Initiative der CDU/CSU, an der die SPD mitwirkte, ohne daß die EU so etwas verlangt hätte.
Jüngstes Beispiel für die Tendenz, wegen angeblicher EU-Vorgaben Gesetze zu verschärfen, ist die geplante Umsetzung eines EU-Rahmenbeschlusses zum Sexualstrafrecht (Bundestagsdrucksache 16/3439). Die Absicht dieser Richtlinie ist durchaus zu begrüßen, nämlich eine wirksamere Bekämpfung der Kinderpornographie und der sexuellen Ausbeutung von Kindern. Doch die Bundesregierung schießt mit ihrem Entwurf weit über dieses Ziel hinaus. Sie hat ein Gesetz vorgelegt, das von der spießigen Sexualmoral der Fünfziger Jahre mieft.
Das war die Auffassung fast aller Sachverständigen bei einer Experten-Anhörung des Rechtsausschusses des Bundestags am 18. Juni 2007. Sie kritisierten vor allem die Anhebung des Schutzalters von 14 auf 18 Jahre.
Im juristischen Sprachgebrauch reicht das Kindesalter bis zum vollendeten 14. Lebensjahr. Die 15- bis 18jährigen werden als Jugendliche eingestuft. Als Kinderpornografie war demnach bisher die Verbreitung, der Besitz und der Erwerb von Schriften über sexuelle Handlungen von und an Kindern (unter 14 Jahren) strafbar. Künftig aber werde »ein 17jähriger junger Mann grundsätzlich genauso behandelt wie ein fünfjähriges Kind«, monierte bei der Anhörung der Wiener Rechtsanwalt Helmut Graupner. Die absurde Folge der von der Bundesregierung geplanten Neuregelung: Ein 17jähriger, der von seiner gleichaltrigen Freundin ein erotisches Foto macht und für sich aufbewahrt, ist künftig wegen Kinderpornographie strafbar.
Es ist offensichtlich verfehlt, wenn sich der Staat auf diese Weise mit der Keule des Strafrechts in das Privatleben fast erwachsener junger Menschen einmischt – und das wird auch nicht dadurch besser, daß sich der Staat dafür eine gesetzliche Grundlage verschafft und wenn der entsprechende Straftatbestand in Zukunft nicht mehr nur »Kinderpornographie«, sondern »Kinder- und Jugendpornographie« heißt. Übrigens würden sich nach dem Wortlaut des Gesetzentwurfs auch Jugendliche, die einvernehmlich innerhalb einer sexuellen Beziehung pornographisches Material von sich herstellen, strafbar machen. Zustimmung beider Partner führt nicht zur Straflosigkeit.
Kristian Kühl von der Universität Tübingen stellte infrage, ob 16- oder 17-jährige Jugendliche tatsächlich strafrechtlichen Schutz vor sexuellem Mißbrauch brauchen. Sexuell gereifte Personen könnten sich selbst schützen. Allenfalls könne man individuell je nach dem persönlichen Entwicklungsstand des Jugendlichen entscheiden, ob er strafrechtlichen Schutz benötige. Der schon zitierte österreichische Experte Graupner ging mit seiner Kritik noch weiter. Er sah die Möglichkeit zur sexuellen Selbstbestimmung von Jugendlichen durch den Gesetzentwurf nicht mehr ausreichend gewahrt. Der Entwurf regle Dinge, die allein den persönlichen Bereich betreffen. Das österreichische Recht sei hier deutlich großzügiger. Für bedenklich hielten auch Tatjana Hörnle von der Universität Bochum und Philipp Andreas Thiee von der Strafverteidigervereinigung Berlin die Gleichsetzung von Kindern und Jugendlichen im Entwurf.
Kinderpornographie liegt künftig sogar dann vor, wenn eine 19jährige Frau, also eine Erwachsene, ein erotisches Foto von sich machen läßt, auf dem sie wie eine 17jährige wirkt. Anwalt Thiee: »Hier ist Rechtsunsicherheit vorprogrammiert und das bei dem wohl mit am meisten stigmatisierenden Tatbestand des Strafgesetzbuches.« Der EU-Rahmenbeschluß würde es zulassen, in diesen Fällen auf Strafbarkeit zu verzichten. Aber die Bundesregierung wünscht eben ein scharfes Sexualstrafrecht und setzt sich über die Erkenntnis aus den siebziger Jahren hinweg, daß sich Jugendliche möglichst ungestört von staatsanwaltschaftlichen Nachforschungen sexuell entwickeln sollen. Florian Jeßberger von der Berliner Humboldt-Universität brachte es auf den Punkt: Die Regierung habe eine EU-Richtlinie zum Anlaß für weitere Strafrechtsverschärfungen genommen.
So wird der »große Lauschangriff« ohne weitere Begründung auch auf den Verdacht des Besitzes jugendpornographischer Schriften ausgeweitet. Thiee: »Die zunehmende Unkontrollierbarkeit sogenannter neuer Medien führt zu der diffusen Angst, daß sich in den Labyrinthen vernetzter Datenströme unfaßbare Verbrechen verbergen könnten. Diese Angst steigert sich zum Teil zu regelrechter Panik, der mit einer strafrechtlichen Kontrolle begegnet wird, die kein geeigneter Steuermittel darstellt.« Zu kritisieren sei nicht die Sorge um die Opfer von Sexualvergehen, »aber eine Kontrollpolitik, welche die Sicherheit, die sie verspricht, nur einlösen könnte, wenn sie eine flächendeckende, quasi totalitäre Inhaltskontrolle der Kommunikation gewährleisten könnte.« Thiee mahnte, Angst, so berechtigt sie sein möge, dürfe nicht Regie in der Strafrechtspolitik führen.
Unter dieser Prämisse lehnten die Sachverständigen auch das Vorhaben der Bundesregierung ab, den Straftatbestand des sexuellen Mißbrauchs von Jugendlichen (§ 182 StGB) zu erweitern. Bisher sind nach dieser Vorschrift sexuelle Handlungen an oder vor Jugendlichen unter 16 Jahren strafbar. Diese Altersgrenze soll entfallen. Als Täter kommen nach geltendem Recht nur Erwachsene (über 18 Jahren) in Betracht. Auch dies wird gestrichen. Künftig soll also auch der sexuelle Mißbrauch 16- und 17jähriger Jugendlicher strafbar sein, und zwar auch dann, wenn die Täter selber noch Jugendliche im Alter zwischen 14 und 18 Jahren sind. Graupner kommentierte: »Jugendliche Opfer werden wie Kinder behandelt, jugendliche Täter wie Erwachsene.« Eine völlig unnötige Kriminalisierung von Jugendlichen, die auf dem Weg der sexuellen Selbstfindung sind, wird die Folge sein. Alles wegen Europa?
Wenn einmal nicht Einwanderungs-, Staatssicherheits- oder Sex-Vorschriften verschärft, sondern europäische Umweltstandards in deutsche Rechtsvorschriften übernommen werden sollen, erleben wir die Bundesregierung und die Koalitionspolitiker ganz anders, nämlich äußerst besorgt, bloß keinen noch so kleinen Schritt zu weit zu gehen, also womöglich einem deutschen Handwerksbetrieb oder gar einem Konzern zu nahe oder gar auf die Füße zu treten.
Erschienen in: Ossietzky 14/2007