Rede von Ulla Jelpke (DIE LINKE.) zu TOP 29 der 205. Sitzung des 16. Deutschen Bundestages Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Zugang von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden sowie Nachrichtendiensten zum Visa-Informationssystem (VIS-Zugangsgesetz – VISZG) Drucksache 16/11569
Sehr geehrter Herr Präsident,
sehr geehrte Damen und Herren,
die Abschottungsmethoden der Europäischen Union (EU) und der Bundesrepublik Deutschland werden immer mehr perfektioniert. Der hier vorliegende „Gesetzentwurf der Bundesregierung über den Zugang von Polizei- und Strafverfolgungsbehörden sowie Nachrichtendiensten zum Visa-Informationssystem“ richtet sich nicht nur gegen Migranten, sondern schon gegen Kurzzeitbesucher.
Das Visa-Informationssystem (VIS) enthält alle Daten von jedem Visa-Antrag in jedem EU-Mitgliedsstaat, unabhängig davon, ob der Antrag erfolgreich war oder zurückgewiesen wurde. Nicht nur der Stand des Visaverfahrens und die Entscheidung der Visabehörde werden dokumentiert, sondern vermutlich ab dem Jahr 2012 auch biometrische Daten, digitalisierte Fotografien und Fingerabdrücke. Jedes Jahr sollen 20 Millionen neue Datensätze dazukommen. Mit der Speicherung von Informationen von zig Millionen Menschen wird das VIS die größte biometrische Datenbank der Welt werden.
Die Fraktion Die Linke lehnt das VIS aus grundsätzlichen Erwägungen ab. Sie lehnt es ab, weil hiermit ein monströses Datensystem mit höchst sensiblen Daten geschaffen wird. Und sie lehnt es ab, weil der vorrangige Zweck die Absicherung der „Festung Europa“ auf High-Tech-Niveau ist.
Sehr geehrte Damen und Herren,
wir haben es hier aber auch mit einem geradezu universellen Datenschutzproblem zu tun. Es werden immer mehr gemeinsam genutzte Datenbanken mit immer mehr Inhalt geschaffen. Systeme wie das Schengener Informationssystem und demnächst eben auch das VIS werden immer weiter miteinander verknüpft. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Behörden, denen der Zugriff erlaubt ist, immer weiter zu. Ursprünglich sollten nur die Grenzpolizeien sowie die Botschaften und Ausländerbehörden Zugriff auf das VIS. Nunmehr wird der Kreis der Zugriffsberechtigten auf die Sicherheitsbehörden im Inland einschließlich der Geheimdienste erweitert. Der frühere Zweck der Grenzkontrolle wird ergänzt durch den Zweck der „Prävention, Aufdeckung und Untersuchung“ schwerer Straftaten. Die eigentlich datenschutzrechtlich verankerte Zweckbindung der erhobenen Daten wird so mehr und mehr ignoriert.
Dazu kommt: Es findet kaum noch eine Kontrolle und unabhängige Auswertung der bestehenden Systeme statt. Die Datenschutzbeauftragten haben lediglich beratende Funktion.
Sehr geehrte Damen und Herren,
das erste Opfer dieses Datenerfassungswahns sind zweifellos Migranten. Schließlich dienen diese Systeme explizit dem Ziel, Migrationsströme in die Europäische Union zu verhindern und nur diejenigen Migranten durchzulassen, an denen ein wirtschaftliches Interesse besteht.
Doch machen wir uns nichts vor. Migranten als eine ohnehin weitgehend rechtlose Menschengruppe ohne Lobby sind nur das Versuchskaninchen für die neuen Überwachungstechnologien. Im nächsten Schritt werden diese Systeme auf andere Gruppen ausgeweitet – wie jetzt mit dem VIS schon auf Kurzbesucher. Der nächste von der Regierungskoalition geplante Schritt ist die so genannte Visa-Warndatei, in der auch EU-Bürger gespeichert werden, die jemanden aus einem visumspflichtigen Land einladen oder für ihn bürgen.
Am Ende wird eine biometrische Zentraldatei für alle EU-Bürgerinnen und –bürger wahrscheinlicher, wenn es jetzt keinen Widerstand gegen die systematische Erfassung von Drittstaatenangehörigen in solchen Datei-Systemen gibt. Hier kann ich nur warnen: Wehret den Anfängen! Stoppt den Datenerfassungswahn!
Wir wollen ein Europa, das auch offen ist nach Süden und Osten. Wir wollen ein Europa der internationalen Freizügigkeit – für Menschen und nicht nur für ihre Daten.
(Die Rede wurde zu Protokoll gegeben)