Das liest sich wie eine vorweggenommene verfassungsrichterliche Würdigung von »Elena«. Wieder geht es um eine anlaß- und verdachtslose Massensammlung sensibler Daten. Die »Streubreite« ist beträchtlich, denn mehr als 40 Millionen Arbeitnehmer sind betroffen. Diese könnten sich bedrohlich beobachtet fühlen, wenn sie zum Beispiel ihr Streikrecht wahrnehmen; sie könnten dadurch in der Ausübung von Grundrechten erheblich beeinträchtigt werden. Schließlich sind die Möglichkeiten zum Mißbrauch einer Datensammlung um so größer, je umfangreicher sie ist.
Nach den Kriterien des Urteils zur Vorratsdatenspeicherung wird »Elena« also in Karlsruhe kaum haltbar sein. Zur Debatte steht da ein technokratisches Regierungsverständnis, das noch in die Zeit des »Kanzlers der Bosse«, Gerhard Schröder, zurückreicht. Denn die Vorarbeiten für den »Elektronischen Entgeltnachweis« (Elena) reichen bis in die Regierungszeit von SPD und Grünen zurück, 2008 mündeten sie in einen Gesetzesbeschluß der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD. Datenschützerische Bedenken galten zur damaligen Zeit im Sinne Schröders als »Gedöns«.
Das Vorhaben wurde als Beitrag zur Entbürokratisierung propagiert. Arbeitsbescheinigungen, die bislang in Papierform an die Sozialversicherungen geschickt wurden, weil die Entgeltdaten für die Berechnung von Arbeitslosengeldern oder Renten erforderlich sind, sollen elektronisch an eine zentrale Stelle des Bundes in Würzburg übermittelt werden. Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit, Sozialbehörden und Gerichte können dort die elektronisch verschlüsselten Daten abrufen. Dies wurde dem Parlament damit schmackhaft gemacht, daß dann Anträge auf staatliche Leistungen wie Kindergeld, Elterngeld oder Arbeitslosengeld schneller bearbeitet werden könnten.
Sogar ver.di-Vorsitzender Frank Bsirske bezeichnete Elena als ein »ursprünglich sinnvolles Projekt«, das jedoch »durch aberwitzige Datensammelwut ins absolute Gegenteil verkehrt« worden sei. Denn als Ende 2009 der vom Bundesarbeitsministerium erarbeitete 41-seitige Datenbogen veröffentlicht wurde, stellte sich heraus, daß das Zuckerbrot einer schnellen Antragsbearbeitung mit der Peitsche einer gigantischen Überwachung von Arbeitnehmern verbunden werden sollte. Im ursprünglichen Datenbogen wurde bei »Fehlzeiten« danach gefragt, ob ein Arbeitnehmer »rechtmäßig« oder »unrechtmäßig« gestreikt habe. Ferner sollen die Arbeitgeber Kündigungsgründe und Abmahnungen erwähnen und bei Entlassungen schildern, welches »vertragswidrige Verhalten« zur Vertragsauflösung geführt habe. Das rief den Widerstand des Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar und der Bundestagsopposition hervor. Schaar rügte, die Grenze der Zulässigkeit sei überschritten. Er nannte besonders die Informationen über Streikteilnahme oder Fehlzeiten am Arbeitsplatz: »Damit habe ich größte Probleme. Bisher tauchen solche Informationen auf Gehaltsbescheinigungen nicht auf, und ihre generelle Speicherung in einer zentralen Datei ist weder gesetzlich geboten noch wäre sie verfassungsrechtlich zulässig.«
Bsirske wies den Datenbogen als »völlig inakzeptabel« zurück. Es liege nicht im Ermessen des Arbeitgebers zu entscheiden, ob ein Streik rechtmäßig ist. »Absolut skandalös« seien auch die Fragen zum Kündigungsschutz. »Diese zentrale Ausforschung muß sich kein Beschäftigter bieten lassen. Wir erwarten deshalb, daß die Bundesregierung den Datenbogen unverzüglich zurückzieht und völlig überarbeitet. Wir prüfen sämtliche Klagemöglichkeiten gegen den Datenkatalog«, kündigte Bsirske schon im Dezember an. Im Bundestag forderten Linke und Grüne den Verzicht auf das Projekt. Die Bundesregierung war jedoch nur bereit, einzelne Fragen wie etwa diejenigen nach Streikteilnahme zu streichen. Diese Fragen sind aber immer noch in der Rubrik »sonstige Fehlzeiten« enthalten.
Die Bundesregierung rechnete offenbar nicht mit der erhöhten Sensibilität in der Bevölkerung. Ähnlich wie bei der Vorratsdatenspeicherung formierte sich allenthalben Widerstand. Erneut kam es zu einer Verfassungsklage, bei der die Zahl der Unterzeichner in ähnliche Dimensionen wie bei der Vorratsdatenspeicherung hineinreichte. Bis zum letztmöglichen Termin der Klageerhebung, dem 31. März, gingen beim Bundesverfassungsgericht etwa 22.000 Unterschriften ein, die eine von den Berliner Anwälten Meinhard Starostik und Dominik Boecker ausgearbeitete Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung unterstützen.
Daraufhin gingen auch Unionspolitiker auf Distanz. Der innenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Hans-Peter Uhl (CSU), monierte, mit dem elektronischen Entgeltnachweis entstehe eine »Art Vorratsdatenspeicherung, die von vielen zu Recht skeptisch gesehen wird«. Er halte es nicht für angemessen, derart viele sensible Daten über Beschäftigte zentral zu sammeln, nur um ein »nachrangiges Interesse der Wirtschaft« an weniger Bürokratie zu bedienen. Uhl forderte die Bundesregierung auf, »Elena« unter dem Aspekt des Datenschutzes »grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen«. Damit waren erstmals aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ähnliche Vorbehalte zu vernehmen, wie die Linkspartei sie schon von Anfang an formuliert hatte: »Die ersichtlichen Risiken sind riesig, die vermeintlichen Vorteile mickrig: lumpige zwei Euro je Datensatz.«
Der Rechtsexperte der Linken im Bundestag, Wolfgang Neskovic, rechnet mit einer erneuten »Maßregelung« durch das Bundesverfassungsgericht. »Die Bundesregierung sollte ›Elena‹ deshalb schleunigst begraben.« Für die FDP sei »Elena« eine Nagelprobe: »Die rechtstaatliche Glaubwürdigkeit der Liberalen entscheidet sich daran, ob sie ›Elena‹ abschaffen oder nicht«, sagte Neskovic.
Die Reaktion des FDP-geführten Bundeswirtschaftsministeriums fiel jedoch enttäuschend aus. Minister Rainer Brüderle kündigte lediglich Entlastungen für den Mittelstand an. Statt das Projekt sofort zu stoppen, will sich Brüderle auf eine geringfügige Korrektur im Sinne einer »Mittelstandskomponente« beschränken und kleineren Betrieben Kosten durch das »Elena«-Verfahren ersparen. Offenbar geht es ihm weniger um den Datenschutz der Arbeitnehmer als vielmehr darum, seine Klientel aus der mittelständischen Wirtschaft zu bedienen. Er schlägt eine Härtefall- oder Optionsklausel zugunsten kleinerer Unternehmen vor. Demnach könnten diese Firmen wählen, ob sie am Elena-Verfahren teilnehmen oder nicht. Das Wirtschaftsministerium gab immerhin zu, daß die Meldung umfangreicher Daten an eine Zentralstelle zu nicht unerheblichen Mehrbelastungen von Kleinst- und Kleinbetrieben führen könnte. Damit ist klar, daß die ursprüngliche Behauptung der damaligen CDU/CSU-SPD-Bundesregierung, die Sammlung der Daten von 40 Millionen Arbeitnehmern diene der Verwaltungsvereinfachung und dem Bürokratieabbau, vom Bundeswirtschaftsministerium selber nicht mehr in vollem Umfang aufrecht erhalten wird.
Auch aus der Wirtschaft wird immer mehr Kritik laut. Im Handelsblatt vom 5. April erklärte Arno Metzler, Hauptgeschäftsführer des Bundes Freier Berufe, durch »Elena« würden die Arbeitgeber »deutlich mehr belastet werden als durch das bisherige Verfahren«, und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag forderte eine Reduzierung des mit den Datenerhebungen verbundenen Aufwands. Er hält Brüderles Ansatz, den Unternehmen die freie Wahl zu lassen, ob sie sich an »Elena« beteiligen, für richtig.
Minister Brüderle ist aufgrund dieser Stimmen anscheinend bereit, die ökonomischen Argumente zu berücksichtigen. Den Gewerkschaften genügt das jedoch nicht. Der Vorsitzende der IG Bau-Agrar-Umwelt, Klaus Wiesehügel, forderte den Wirtschaftsminister auf, »Elena« nicht nur wegen der Zweifel an der Praxistauglichkeit auf den Prüfstand zu stellen. »Wenn Brüderle bremst, dann sollte er dies in erster Linie wegen der großen Gefahr für den Daten- und Persönlichkeitsschutz der Beschäftigten tun«, betonte Wiesehügel im Handelsblatt.
Mit seiner unzureichenden Korrektur wird der Bundeswirtschaftsminister schon gar nicht die zahlreichen Verfassungskläger zufriedenstellen. Der »Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs« (FoeBuD) betreut die Massen-Verfassungsbeschwerden. Rena Tangens, Mitbegründerin des Vereins, stellte klar, daß das Ziel der Verfassungsklagen nicht kleinere Veränderungen seien, wie sie derzeit innerhalb der Regierung diskutiert würden. »Kosmetik ist uns nicht genug. Wir wollen ›Elena‹ insgesamt kippen«, kündigte Tangens an.
Wahrscheinlich bedarf es dazu tatsächlich der Hilfe des Bundesverfassungsgerichts. Denn die »christlich-liberale« Bundesregierung steht, dies zeigt der Verlauf der Diskussion deutlich, in der Tradition ihrer Vorgängerregierungen. Schon unter Schröder und erst recht in der großen Koalition zählte nur das ökonomische Argument. »Elena« wurde mit der Behauptung der Kostenersparnis eingeführt, obwohl damit ein gigantischer Überwachungsmechanismus in Kraft gesetzt wurde. Wiederum mit dem ökonomischen Argument, der kleine Mittelständler würde durch Datenerfassungen und Datenweiterleitungen finanziell zu sehr belastet, ist die Bundesregierung nun zu kleinen Abstrichen bereit. Die Grundrechte der Arbeitnehmer spielen in einem solchen ökonomisierten Denken keine Rolle, obwohl der Grundrechtsschutz das entscheidende Thema in der Debatte sein müßte. Da die Bundesregierung hierfür kein Gespür hat, hält sie bisher grundsätzlich an »Elena« fest. Man wird sie durch breiten gesellschaftlichen Widerstand und durch die Verfassungsklagen zur Aufgabe zwingen müssen.