Die britische Bürgerrechtsorganisation statewatch warnt: »Legitime politische Diskussionen und Aktivitäten« könnten dem »Krieg gegen den Terrorismus« zum Opfer fallen.
Kern des Vorhabens ist ein Fragebogen mit über 70 Angaben zu »Radikalen«, die von EU-Polizeibehörden, Geheimdiensten, Sicherheitsunternehmen und anderen Institutionen erhoben und untereinander ausgetauscht werden sollen. In der verklausulierten Sprache der EU-Bürokraten geht es um den Einsatz eines »standardisierten, multidimensionalen semistrukturierten Instruments zur Erfassung von Daten und Informationen über die Radikalisierungsprozesse in der EU«. In einem Vermerk vom 16. April 2010 nennt das Generalsekretariat des EU-Rates als Ziel, »zu verhindern, daß Menschen sich dem Terrorismus zuwenden, und bei den Faktoren und Ursachen anzusetzen, die innerhalb und außerhalb Europas zu Radikalisierung und Anwerbung von Menschen für den Terrorismus führen können.« In den dazugehörigen Dokumenten werden die Begriffe »Terrorismus« und »Radikalisierung« durchweg synonym verwendet.
Die EU will systematisch analysieren, warum Menschen »radikal« und »gewaltbereit« werden. Dabei tauchen allerdings solch naheliegende Begriffe wie »Kapitalismus«, »Ausbeutung« und »Verarmung« nicht auf. Der Fragebogen zielt vielmehr auf persönliche Lebensumstände, psychologische »Auffälligkeiten« und das personelle »Umfeld« vermeintlich radikaler Aktivisten und ihrer Anhängerschaft. Durch die – auch intimste Aspekte berührende – Analyse soll herausgefunden werden, »aus welchen Gründen und auf welche Weise es bei Personen zu einer Radikalisierung und Beteiligung am Terrorismus kommt«. Dieses Wissen soll dann die Entwicklung von Gegenstrategien ermöglichen.
Das hört sich utopisch an. Europäische Behörden tun sich schwer damit, ihre jetzt schon riesigen Datenbestände effektiv zu verwalten, geschweige denn miteinander auszutauschen. Da wird dieses Biggest-Brother-Projekt nicht über Nacht Realität. Dennoch: Der politische Wille dazu ist vorhanden, die grundlegenden Beschlüsse auf EU-Ebene sind gefaßt, und die ersten Modellversuche dürften in Kürze beginnen.
Der vorgeschlagene Fragebogen beginnt mit einer Aufzählung »radikaler« Ideologien und reicht von »extrem rechts/links« bis zu »Antiglobalisierung«. Abgefragt werden die Kommunikationswege sogenannter »radikaler Mitteilungen«, explizit enthalten sind Querverbindungen zu Personen bzw. Organisationen, die »gewaltsame Radikalisierung befürworten«. Nach Verhaltensauffälligkeiten bzw. -änderungen wird ebenso gefragt wie nach dem emotionalen Zustand der »Radikalen«, deren wirtschaftlichen und familiären Verhältnissen usw. Wie all diese Angaben erhoben werden können, wird nur angedeutet. Das geplante Erfassungsinstrumentarium soll ungeachtet bisheriger institutioneller Grenzen von »Polizeikräften, Sicherheitsdiensten und Geheimdiensten und durch Institutionen, die an der Bekämpfung von Radikalisierung, Anwerbung und Terrorismus beteiligt sind«, angewandt werden. Ausdrücklich einbezogen sind Europol und das gemeinsame Zentrum der EU-Geheimdienste SITCEN. Europol soll Listen von Personen aufstellen, »die an der Radikalisierung/Anwerbung oder Übermittlung von radikalisierenden Botschaften beteiligt sind«.
Die Begriffe sind dermaßen schwammig, daß alles darunter gefaßt werden kann. So steht nicht nur der einheimische Terrorismus im Fokus, sondern »Radikalisierungsprozesse«, »die auch mit anderen Regionen der Welt in Zusammenhang stehen, in denen es zu einer Radikalisierung kommen kann«. Die Art dieses »Zusammenhangs« wird nicht näher bezeichnet. Die Formulierung erlaubt die Beobachtung sämtlicher Unterstützer oder Sympathisanten nationaler Befreiungsbewegungen, wie auch von Zusammenschlüssen, die sich etwa gegen Bundeswehr-Auslandseinsätze oder Ausbeutung in der sogenannten Dritten Welt engagieren.
Der Fragebogen ist nur »semistrukturiert«, d. h. die einzelnen Polizeibehörden haben freie Hand, die Fragen zu ändern und zu ergänzen. Frei sind sie auch darin, den Begriff »radikal« zu definieren. Das könnte dazu führen, daß in einem EU-Staat erfaßt wird, was in einem anderen (noch) unverdächtig erscheint.
Protest gegen das Riesendateiprojekt äußert sich bislang nur verhalten, überwiegend in Großbritannien. Statewatch weist darauf hin, es gebe in der EU Millionen Menschen, die aus Sicht des Staates »radikale« Ansichten hätten. Als eine von ihnen outete sich die liberale Europaabgeordnete Sarah Ludford: Im Gespräch mit der Homepage euobserver.com kritisierte sie das Vorhaben als viel zu weitgehend. Es verwische die Abgrenzungen zwischen Terrorismus und legitimem politischen Aktivismus. »Radikal zu sein ist nicht das gleiche wie ein Terrorist zu sein«, erklärte Ludford. Sie selbst sei beispielsweise »radikal für Datenschutz«.
Während diese Superdatei erst noch entstehen muß, werden in Deutschland schon einmal die Zuarbeiten vorbereitet. Die Personendateien des Bundeskriminalamtes – allen voran die »Hooligan«-Datei und die sogenannten »Gewalttäter«-Dateien – sind mittlerweile rechtlich abgesichert. Der Bundesrat hat Anfang Juni einer Verordnung des Bundesinnenministeriums zugestimmt.
Die Dateien enthalten nicht nur die Angaben zu verurteilten Straftätern, sondern werden nach dem Motto gepflegt: Im Zweifel für die Speicherung eines Verdächtigen, mitunter auch seiner »Kontaktpersonen«. Nach der Einstellung eines Ermittlungsverfahrens, ja selbst nach einem gerichtlichen Freispruch kann das BKA die Daten weiter speichern. Für einen Eintrag genügt die Annahme, der Betroffene könne in Zukunft eine Straftat begehen. Auf die Daten kann jede Landespolizeibehörde zugreifen, außerdem werden sie an ausländische Polizeistellen weitergegeben. Bei Gipfeltreffen in der EU ist der Datei-Austausch mittlerweile Standard.
Das Innenministerium hat die Verordnung nun extrem großzügig formuliert und nicht nur die bestehenden Dateien legalisiert, sondern einen Freibrief ausstellen lassen: Wenn das BKA künftig im Bereich der politischen Kriminalität neue Dateien einrichten oder die bestehenden um weitere personenbezogene Kriterien erweitern will, braucht es keine erneute Rechtsgrundlage. Die öffentliche Kontrolle tendiert damit gegen Null.