Die von der »Bürgerrechtspartei« FDP vor der Bundestagswahl angekündigte Wende in der Sicherheitspolitik ist mit ihrem Eintritt in die Regierung ausgeblieben. So stimmte die schwarz-gelbe Koalition in der ersten Jahreshälfte dem neuen SWIFT-Abkommen des Rates der EU zu, mit dem den USA weiterhin der Zugriff auf europäische Kontodaten eingeräumt wird. Als großer Fortschritt wurde verkauft, daß ein Europol-Beamter im US-Finanzministerium über den sorgsamen Umgang mit den Daten wache – ein Ermittler soll also seine Kollegen beaufsichtigen. Eine richterliche Kontrolle ist dagegen nicht vorgesehen. Der deutsche Datenschutzbeauftragte Peter Schaar kritisierte, daß weit mehr Informationen als nur die von Verdächtigen übermittelt werden und gleich fünf Jahre gespeichert werden dürfen.
»Mordanschlag« mit Böller
Wie schon im Vorjahr schossen sich Innenpolitiker von CDU und CSU sowie die bürgerliche Presse auf eine angeblich drastisch angestiegene Zahl linksextremer Gewalttaten insbesondere gegen die Polizei ein. Höhepunkt dieser Kampagne war der scheinbare Wurf einer mit Nägeln und Glasscherben gespickten Splitterbombe auf Beamte während einer Demonstration gegen die Kürzungspolitik der Bundesregierung Mitte Juni. Unionspolitiker und Polizeigewerkschafter sprachen von einem »Comeback des linken Terrors« und gaben der Linkspartei und der Gewerkschaft ver.di als Mitveranstalter der Demonstration eine Mitschuld an dem »Mordanschlag«. Während einer aktuellen Stunde im Bundestag forderten die Unionsfraktionen schärfere Strafen für Angriffe auf Polizisten und eine Verschärfung des Landfriedensbruchsparagraphen. Zu diesem Zeitpunkt war bereits von der Staatsanwaltschaft klargestellt worden, daß Verletzungen von Beamten auf der Demonstration nicht etwa durch eine Splitterbombe, sondern lediglich durch einen starken Böller verursacht wurden.
Ein genauerer Blick auf die immer wieder bemühten Statistiken über eine angeblich deutliche Zunahme von Angriffen auf Polizisten zeigt allerdings, wie manipuliert die von Sicherheitsdiensten und Innenministern erhobenen Vorwürfe sind: Generell wird nicht zwischen der Einleitung von Ermittlungsverfahren und deren Ausgang unterschieden. Und schon die Weigerung, Straßenblockaden gegen Neonaziaufmärsche zu beenden, fällt unter »Widerstand«. Die Kampagne hatte ihre Wirkung – und die Regierung brachte einen Gesetzentwurf auf den Weg, der härtere Strafen für den Widerstand gegen Polizisten vorsieht.
Nachdem Bundesinnenminister Thomas de Maizière sich anfangs mit Panikmache zurückhielt, wurde im November landesweiter Terroralarm ausgerufen, der dafür gleich bis in das nächste Frühjahr anhalten soll. Das Szenario eines Al-Qaida-Sturmes auf das Reichstagsgebäude wurde an die Wand gemalt. An Bahnhöfen und Flugplätzen marschierten mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten auf. Solche Bilder sind allemal ein Instrument, Stimmung für die weitere Stärkung des Sicherheitsapparates zu machen. Zeitgleich legte eine vom Bundesinnenminister eingesetzte Kommission unter Leitung des früheren Verfassungsschutzchefs Eckart Werthebach im Dezember entsprechende Vorschläge für eine Zusammenlegung von Bundeskriminalamt und Bundespolizei vor – Resultat wäre ein Apparat, der die quasigeheimdienstlichen Befugnisse des BKA mit der bundesweiten Struktur der Bundespolizei unterfüttert. Widerspruch gegen die Pläne kommt nicht nur von Bürgerrechtlern, sondern auch von den Jobverluste fürchtenden Polizeigewerkschaften und von Landesinnenministern.
Praxistest in Stuttgart
Rapide angestiegen ist die Zahl von Verfahren gegen »terroristische Vereinigungen im Ausland« nach Paragraph 129b Strafgesetzbuch. Im Frühjahr 2010 liefen bereits 155 Ermittlungen allein gegen den »religiös motivierten, insbesondere islamistischen Terrorismus«. Der Grund für die Steigerung ist allerdings hausgemacht: Militante Widerstandsaktionen gegen die deutschen Besatzungskräfte in Afghanistan werden zum 129-b-Fall. Auch anatolische Linke wurden aufgrund dieses Paragraphen – vor allem mit Hilfe von Beweismaterial aus der Türkei – zu Haftstrafen bis zu sieben Jahren verurteilt.
Gemeinsam mit paramilitärischen Einheiten aus anderen Staaten probte die Bundespolizei im Sommer im brandenburgischen Lehnin die Bewältigung bürgerkriegsähnlicher Unruhen. Kurz darauf folgte ein erster Praxistest. Gegen friedliche Demonstranten, die sich gegen das milliardenteure Bahnhofsprojekt »S 21« in Stuttgart aussprachen, ging die Polizei Ende September mit massiver Gewalt vor. Hunderte, darunter viele Schüler, wurden durch Wasserwerfer und Pfefferspray verletzt. Ein Rentner verlor das Augenlicht. Doch Einsatzleitung und CDU-Landesregierung verteidigten die rohe Gewalt als angemessen. Gleichzeitig betreibt die Bundesregierung nun den Austausch der bisherigen Wasserwerfer der Bereitschaftspolizeien durch neue, noch leistungsfähigere Fahrzeuge. Auch beim Castortransport im November ging die Polizei mit extremer Härte gegen Atomkraftgegner vor. Rund 2200 Dosen Pfefferspray wurden im Wendland verschossen und Anzeigen gegen Aufrufe zum »Schottern« der Bahnstrecke erstattet. Überwacht wurden die Demonstranten aus der Luft durch eine Drohne. Während zahlreiche ausländische Polizisten als Beobachter zusahen, durfte ein Angehöriger der französischen Eliteeinheit CRS aktiv mitprügeln.
Die in diesem Jahr angestoßenen oder geforderten Gesetzesverschärfungen und die Umbaupläne für den Polizeiapparat zeigen: Die Herrschenden bereiten sich weiterhin auf die Niederschlagung sozialer Unruhen vor. Die militanten Massenproteste in Griechenland oder die Streiks in Frankreich haben das Protestpotential in der Krise deutlich gemacht. Es ist zu befürchten, daß das polizeiliche Vorgehen gegen »Wutbürger« – so das deutsche Wort des Jahres – in Stuttgart und dem Wendland hier nur ein Vorspiel war.