Während Sarrazin das »einvernehmliche Ergebnis« als »Sieg der Vernunft« lobte, äußerten am Dienstag bundesweit Sozialdemokraten ihren Unmut.
Der seit 37 Jahren der SPD angehörende frühere Finanzsenator und Exbundesbanker mußte sich am Gründonnerstag vor der Parteischiedskommission Wilmersdorf-Charlottenburg wegen seines rassistischen und sozialdarwinistischen Bestsellers »Deutschland schafft sich ab« rechtfertigen. Nach einer Erklärung Sarrazins, wonach er weder Migranten diskriminieren noch sozialdemokratische Grundsätze verletzen wollte, hatten die Bundes- und Landespartei sowie weitere Beschwerdeführer ihren Ausschlußantrag überraschend zurückgezogen. Sarrazin habe sich durch die Relativierung sozialdarwinistischer Äußerungen und die Klarstellung von Mißverständnissen »wieder auf den Boden der Meinungsfreiheit in der Partei begeben«, rechtfertigte die als Parteilinke geltende SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles am Dienstag im Deutschlandfunk die Rücknahme des Antrags. Wahltaktische Überlegungen habe es dabei keine gegeben. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, der in der Öffentlichkeit zwar als scharfer Sarrazin-Kritiker auftrat, doch sich gleichzeitig ganz in dessen Sinn für Sanktionen gegen »Integrationsverweigerer« stark machte, gab ihr in einer Erklärung »Rückendeckung«.
Bis Dienstag mittag hatten bereits mehr als 400 Mitglieder der Partei, darunter mehreren Kreisvorsitzende, eine »Berliner Erklärung« unterzeichnet, in der der »Zickzackkurs der Partei« kritisiert wird. Es folgt eine Entschuldigung bei denjenigen, »die sich durch diese Haltung verletzt oder enttäuscht fühlen«. Gleichzeitig appellieren die Unterzeichner an unzufriedene Genossen, die Partei nicht zu verlassen: »Jetzt gerade nicht! Wir brauchen Euch! Die Partei braucht Euer politisches Rückgrat!« Die SPD bliebe die »Partei des sozialen Aufstiegs«, in der »menschenverachtendes Gerede oder gar rassistischer Habitus« keinen Platz hätten. Die Unterzeichner betonen, daß sie die Meinungsfreiheit verteidigten. Die SPD sei jedoch eine politische Wertevereinigung, die durch ihr Grundwertekorsett einen äußersten Meinungsrahmen vorgebe, der »nicht verhandelbar« sei. Die politische Verantwortung und der Gestaltungsanspruch der SPD endeten nicht an irgendeinem Wahltag. In Berlin wird am 18. September ein neues Abgeordnetenhaus gewählt. Der Vorstand der Berliner SPD traf sich am Nachmittag zu einer Sondersitzung.
Der Gründer des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokraten, Sergey Lagodinsky, hat aus Protest seinen Austritt aus der SPD erklärt. »Ich kann es in einer Partei mit Sarrazin aushalten, aber ich kann es nicht in einer Partei aushalten, die sich aus Angst vor dem Stammtisch einem Sarrazin nicht stellen will«, begründete er seinen Schritt in einem Brief an Nahles. Der baden-württembergische SPD-Landesvorsitzende Nils Schmid hält Sarrazins Erklärung für »unbefriedigend« und sieht die »mühselig aufgebaute Verankerung« der SPD »in der Einwanderer-Community« gefährdet. SPD-Innenexperte Sebastian Edathy drohte für den Fall neuer Provokationen des Exfinanzsenators mit einem neuen Ausschlußverfahren. »Sollte er sich erneut biologistisch äußern, wäre sein Ausschluß aus der SPD unumgänglich.«
Bundestagsfraktionschef Frank-Walter Steinmeier zeigte sich hingegen erleichtert, daß der Partei ein jahrelanges Schiedsverfahren erspart blieb. Nun müsse Sarrazin durch sein Auftreten beweisen, daß er in der SPD noch zu Hause sei. Daß Sarrazin sein weit über eine Million Mal verkauftes Buch, das immer noch in den Auslagen vieler Buchhandlungen liegt und auch vom Bücherdienst der faschistischen NPD vertrieben wird, nun vom Markt zurückzieht, ist nicht bekannt