Die Bundesregierung weigert sich, Forderungen von Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl und Medico international sowie von Bundestagsfraktionen der Linken, SPD und Grünen nachzukommen, schutzsuchende Migranten aus Nordafrika in Deutschland aufzunehmen. In EU-Gremien verweist Berlin auf die Zuständigkeit Italiens, in das derzeit die meisten Menschen aus Tunesien und Libyen fliehen.
Das Kabinett hat damit einmal mehr die Chance verpaßt, seine verfehlte Asyl- und Flüchtlingspolitik zu korrigieren. Seit der faktischen Abschaffung des Asylgrundrechts 1993 beruht die Politik aller seitherigen Bundesregierungen – egal ob »schwarz-gelb«, »rot-grün« oder große Koalition – auf dem Prinzip Abschottung.
Dabei hätte eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 21. Januar 2011 allen Anlaß gegeben, eine Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik zu machen: Der EGMR hat festgestellt, daß Überstellungen nach Griechenland spätestens seit Frühjahr 2009 angesichts der dortigen Zustände als Menschenrechtsverletzungen angesehen werden müssen. Gegen die Drohung mit einer solchen Abschiebung müsse es außerdem wirksame Rechtsmittel mit aufschiebender Wirkung geben.
Mit dieser Entscheidung wurden sowohl die Kategorie des »sicheren Drittstaates« als auch die Verweigerung des »effektiven Rechtsschutzes« in Frage gestellt. Als »sicherer Drittstaat« gelten alle EU-Mitglieder und einige weitere Staaten. Flüchtlinge, die über ein solches Land in die BRD reisen, haben hier keinen Anspruch auf ein Asylverfahren. Ihre Anträge werden als »unbeachtlich« eingestuft, die Antragsteller schnellstmöglich in den Staat zurückgeschoben, den sie zuerst betreten haben. Eine Klage gegen den Rückführungsbescheid hat keine aufschiebende Wirkung – damit wird effektiver Rechtsschutz verweigert. Diese Praxis ist zentrales Element der Abschottungspolitik.
Der EGMR hat mit seinem Urteil die Rechtswidrigkeit dieses Verfahrens, das als sogenanntes Dublin-II-System seit 2003 in der EU gilt, festgestellt. Die Entscheidung, die auf die Klage eines afghanischen Asylbewerbers in Belgien zurückging, der nach Griechenland abgeschoben werden sollte, betrifft sämtliche EU-Staaten. Das bedeutet: Auch die deutsche Praxis ist mit der Europäischen Menschenrechtskonvention unvereinbar.
Die Bundesregierung reagiert bislang mit einer Vogel-Strauß-Politik: Sie steckt den Kopf in den Sand und behauptet einfach, der EGMR-Bschluß sei eine Einzelfallentscheidung ohne grundsätzliche Bedeutung. Ganz anders hingegen das Deutsche Institut für Menschenrechte: »Die deutsche Drittstaatenregelung, die vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung in einen sogenannten sicheren Drittstaat ausschließt, ist nicht mehr haltbar«, hieß es von ihm in einer Mitteilung unmittelbar nach dem Urteil. Auch in der Rechtsprechung zeigt das Urteil Folgen über den Einzelfall hinaus: In einer Reihe aktueller Entscheidungen zu Überstellungen nach Italien (siehe Spalte) haben Verwaltungsgerichte mit Bezug auf den EGMR einstweiligen Rechtsschutz gegen die sofortige Abschiebung angeordnet. In den Hauptsacheverfahren muß nun auch geprüft werden, ob die »Drittstaaten« tatsächlich Zugang zu einem effektiven Asylverfahren und sozialer Existenzsicherung bieten – eine Prüfung, die bisher gerade vermieden werden sollte. Nun ist der Gesetzgeber gefragt, daraus die Konsequenzen zu ziehen und die Drittstaatenregelung zu kippen.