In der Nacht vom 24. zum 25. Mai 2000 erstach ein 18jähriger Neonazi im Berliner Stadtteil Buch den 60jährigen Sozialhilfeempfänger Dieter Eich in dessen Wohnung. Der im gleichen Haus lebende Täter war zuvor mit drei weiteren Neonazis in die Wohnung eingedrungen, um »einen Assi aufzuklatschen«. Sie traten dem wehrlosen Mann mit Springerstiefeln in Gesicht und Magen. Aus Angst vor einer Anzeige beschlossen die Nazis, in Eichs Wohnung zurückzukehren und diesen zu töten. »Das hast du gut gemacht, der mußte weg, der war asozialer Dreck«, lobte einer der Schläger, Matthias K., seinen Kumpanen René R., nachdem dieser den wehrlosen Mann mit einem Jagdmesser ermordet hatte. Der später vom Gericht als »treibende Kraft« der Mordtat bezeichnete Matthias K. galt als »rechte Hand« des bekannten Berliner Naziaktivisten Arnulf Priem. Er erhielt eine 13jährige Haftstrafe wegen Mordes, der Mörder René R. eine Jugendhaftstrafe von acht Jahren, die beiden Mittäter fünf bzw. sechs Jahre Freuheitsentzug. Eine politische Motivation hinter dem Mord wollte Richter Kay Dieckmann allerdings nicht sehen. Zwar sei das »Aufklatschen« Eichs politisch rechtsextrem motiviert gewesen, doch seine Ermordung sei eine unpolitische »Verdeckungstat« aus Angst vor einer Anzeige, lautete die spitzfindige Argumentation. In den staatlichen Statistiken über Todesopfer rechtsextremer Gewalt taucht der Name Dieter Eich bis heute nicht auf.
Damit ist Dieter Eich kein Einzelfall. Die offiziellen Zahlen der Innenminister von Bund und Ländern weisen für die Zeitspanne von Oktober 1990 bis zum Sommer 2010 »nur« 47 Todesopfer rechter Gewalt aus. Dagegen berichtete der Tagesspiegel in seiner Ausgabe vom 15. September 2010 über eine gemeinsam mit der Wochenzeitung Die Zeit erstellte Recherche, die ergeben habe, daß seit der sogenannten Wiedervereinigung »mindestens 137 Menschen bei Angriffen von Neonazis und anderen rechten Gewalttätern ums Leben gekommen sind«. Dies ist eine Diskrepanz von 90 »verschwiegenen Toten«. In 14 weiteren Fällen besteht für die Journalisten zumindest der Verdacht eines rechten Tötungsdeliktes. Die Mitarbeiter der beiden Zeitungen hatten Urteile gesichtet, Staatsanwaltschaften, Gerichte, Sicherheitsbehörden und Opferberatungsstellen befragt und mit Freunden und Verwandten der Opfer gesprochen. Sie wiesen dabei insbesondere nach, daß Täter für die aufgelisteten Tötungsdelikte aus einem rechten Milieu stammen und teilweise im Ermittlungs- und Strafverfahren selbst ihre rechtsextreme oder fremdenfeindliche Gesinnung und Motivation offenbart hatten.
Chronik rechter Gewalt
Eine gravierende Diskrepanz zwischen den etwa von den »Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt« gezählten rechten Tötungsdelikten und den staatlichen Statistiken wurde bereits vor mehr als zehn Jahren deutlich. Die Journalistin Heike Kleffner hatte gemeinsam mit ihrem Kollegen Frank Jansen in der Frankfurter Rundschau und dem Tagesspiegel am 14. September 2000 mit der Auflistung von 93 Toten durch rechte Gewalt seit 1990 die Debatte um verschwiegene Nazimorde angestoßen. Nur 24 dieser Toten wurden bis dahin auch von der Bundesregierung als Opfer rechter Gewalt anerkannt. Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) ließ daraufhin alle Landeskriminalämter, in deren Zuständigkeit eines der von Kleffner und Jansen benannten Tötungsverbrechen fiel, anschreiben. In der Folge wurde die offizielle Opferzahl rechter Tötungsdelikte leicht nach oben korrigiert. Die Innenminister von Bund und Ländern einigten sich zum 1. Januar 2001 auf ein neues, erweitertes System zur Erfassung politisch rechts motivierter Kriminalität (»PMK rechts«). Bis dahin waren nur solche Delikte gezählt worden, die sich entsprechend dem offiziellen Extremismusbegriff direkt gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung bzw. den Staat richteten, während damit beispielsweise Überfälle von Neonazis auf Antifaschisten aus dem Raster der Behörden fielen. Nach der neuen Systematik gilt eine Tat insbesondere dann als politisch motiviert, »wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, daß sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status richtet.«1 Ob ein Übergriff als rechts gewertet wird, entscheiden dabei weiterhin die zuständigen Polizeidienststellen, das Bundeskriminalamt stellt diese Einordnung anschließend nicht mehr in Frage.
Während nach dem »PMK«-Definitionssystem Tatumstände oder Tätergesinnung ausschlaggebend für die Einstufung als politisch rechts motiviert sind, verengt die Bundesregierung diese Kriterien in der Praxis auf die vom Gericht nachzuweisende Motivation des Täters. Wenn Angeklagte vor Gericht erfolgreich ihrer Beweggründe verschleiern, etwa erheblichen Alkoholeinfluss geltend machen, sich für die Tatzeit für unzurechnungsfähig erklären und ihre faschistoide Einstellung oder ihre Einbindung in die rechte Szene verschweigen, ist ein juristisch einwandfreier Nachweis der rechten oder rassistischen Tatmotivation nicht immer zu erbringen. »Wenn ein Neonazi auf der Straße einen Obdachlosen erschlägt, muß geklärt werden, ob er das tat, weil er betrunken war, wütend auf alles und jeden, oder weil er ein politisches Zeichen setzen wollte. Das eine gilt als Mord unter vielen, das andere als politische Tat«, heißt es in der Zeitung Der Westen unter Berufung auf den nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz.2 Daß nicht jeder wütende Betrunkene zum Mörder an Wehrlosen wird, sondern hier in der Regel schon ein entsprechendes Weltbild mit klaren Feindbildern vorhanden sein muß, ignoriert der Geheimdienst ebenso wie es viele Gerichte tun.
»Eine politische Beurteilung und Bewertung der Tötungsdelikte muß diese gesamte juristische Bewertung der Gerichte nicht nur nicht nachvollziehen. Sie darf sie nicht zu ihrem eigenen Maßstab machen«, kritisierte die Fraktion Die Linke im Bundestag in der Einleitung einer großen Anfrage über die von Tagesspiegel und Zeit aufgezählten Opfer rechter Tötungsdelikte.3 Die Linksfraktion schreibt weiter über das Ergebnis des bisherigen Vorgehens der Bundesregierung: »Die reale Gefahrenlage wird nicht erfaßt, und die tatsächliche Bedrohung, die vom Rechtsextremismus ausgeht, wird der Bevölkerung verharmlosend dargestellt. Die PMK ist die Grundlage für die Sensibilisierung der Öffentlichkeit für Gefährdungslagen in bestimmten Deliktbereichen.« Bei einem gesellschaftlich so brisanten Thema wie Rechtsextremismus und Gewalt führe eine Differenz von 90 Todesopfern zu erheblichen Verunsicherungen über Aussagekraft und Zuverlässigkeit öffentlicher Darstellung.
Kartell des Schweigens
Die Verschleierung der tatsächlichen, hohen Zahl rechts und rassistisch motivierter Tötungen hat zahlreiche Ursachen. Keine Gemeinde und kein Bundesland wird gerne in der Öffentlichkeit das – letztlich auch dem Tourismus und wirtschaftlichen Investitionen abträgliche – Stigma einer Nazihochburg tragen wollen. Es ist dabei ein allgemeiner Trend unter Bürgermeistern und Kommunalpolitikern, aber auch Polizeibehörden zu beobachten, Neonazigewalt in ihrem Zuständigkeitsbereich als unpolitische Randale unter Alkoholeinfluß oder als Streitigkeiten unter Jugendlichen zu verharmlosen und die Existenz einer gefestigten rechten Szene vor Ort zu leugnen. Sie müssten ja »nicht alles sehen«, wurden drei Staatsschützer von ihrem Vorgesetzten in der Polizeidirektion Dessau belehrt. Denn zu viele registrierte rechte Straftaten könnten »das Ansehen unseres Landes« schädigen.4 Mit den Zuständen dort beschäftigte sich schließlich eine Untersuchungskommission des Landtags von Sachsen-Anhalt. Doch es handelt sich hier keineswegs um ein ausschließliches Dessauer Problem. Wie der Fall Dieter Eich zeigt, haben wir es häufig mit regelrechten Schweigekartellen aus Polizei, Justiz, Bundesregierung und oftmals auch der Presse zu tun.
Mit dem unter »Schwarz-Gelb« zur Regierungslinie ernannten pseudowissenschaftlichen Extremismuskonstrukt erfolgt der Versuch einer Gleichsetzung von rechts und links, von antifaschistischer, antikapitalistischer Linker und neofaschistischer Rechter. Eine solche Gleichsetzung kann in der Öffentlichkeit nur funktionieren, wenn das tatsächliche Ausmaß rechter Gewalt- und Mordtaten kleingerechnet oder verschwiegen wird. So wird von Unionspolitikern aktuell behauptet, die schlimmere Gewalt gehe inzwischen von »Linksextremisten« aus. Man erinnere sich nur einen Augenblick an die RAF-Hysterie in den 70er Jahren mit Rasterfahndungen, weitreichenden Gesetzesverschärfungen wie der Einführung des Terrorparagraphen 129a im Strafgesetzbuch und einer von Medien und rechten Politikern betriebenen »Sympathisantenhetze« bis ins linksbürgerliche Milieu. Dann stelle man sich vor, was in diesem Land los wäre, wenn hier in den letzten zwei Jahrzehnten mehr als 140 Todesopfer linker Gewalt zu beklagen wären.
Die Linksfraktion, die monatlich bei der Bundesregierung Auskunft über die rechtsextremen Straf- und Gewalttaten verlangt, erkundigte sich in ihrer großen Anfrage zu den rechten Tötungsdelikten bei jedem der bislang in der offiziellen Statistik verschwiegenen Opfer einzeln, ob die Tat mittlerweile amtlich als politisch motivierte Straftat erfaßt wird. Die Aufzählung dieser rechten Morde beginnt mit der Tötung des Polen Andrzej T. durch drei junge Deutsche am 7. Oktober 1990 vor einer Disko im brandenburgischen Lübbenau. Obwohl die Täter zuvor schon an einem Angriff auf ein Asylbewerberheim beteiligt waren, sah das Gericht keine rechte Tatmotivation.
Die letzten drei in der Bundesstatistik fehlenden Fälle von offensichtlich rechts motivierten Tötungsverbrechen betreffen das Jahr 2008. In der Nacht zum 26. April 2008 wurde der 40jährige Peter S. im bayerischen Memmingen von Alexander B. mit einem Bajonett in seiner eigenen Wohnung erstochen, nachdem sich Peter S. über laute rechtsextreme Musik aus Alexander B.s Wohnung beschwert und diesem dessen Gesinnung vorgeworfen hatte. Während der Richter kein rechtes Tatmotiv sah, hielt der Vizepräsident des Landesgerichts einen solchen Hintergrund für wahrscheinlich. Die Kammer beließ es aber dabei, den »äußeren Sachverhalt zu klären«, da der Täter geständig war.
Ebenfalls im Sommer 2008 wurde der 59jährige Obdachlose Karl Heinz T. in Leipzig so zusammengeschlagen, daß er zwei Wochen später im Krankenhaus seinen Verletzungen erlag. Der 18jährige Täter Michael H. war nach dem ersten Angriff noch einmal zurückgekommen, um den schon Schwerverletzten weiter zu schlagen. Der Täter, der gerade auf dem Heimweg von einer Mahnwache »Todesstrafe für Kinderschänder« der Neonazi-»Kameradschaft« »Freie Kräfte Leipzig« war, wurde wegen heimtückischen Mordes zu acht Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, Karl Heinz T. aber nicht in die Liste der Opfer politisch motivierter Tötungsdelikte aufgenommen.
In der Nacht zum 1. August 2008 wurde der auf einer Parkbank schlafende 50jährige Hans-Joachim S. im sachsen-anhaltischen Dessau von zwei alkoholisierten Rechtsextremisten mit einem Müllcontainer erschlagen. Auf ihren Handys hatten die Täter Hakenkreuze und die Parole »Juden sind unser Unglück«. Laut einem Zeugen habe einer der beiden das Opfer einen »Unterbemittelten« genannt, der es »nicht anders verdient« habe. Doch das Landgericht Dessau, das die beiden Männer im April 2009 wegen Mordes verurteilte, konnte keine rechten Motive erkennen.
Mordmotiv Sozialdarwinismus
Auffällig oft sind Obdachlose, Langzeitarbeitslose oder andere sozial Benachteiligte Opfer neofaschistischer Tötungsverbrechen. Die häufig alkoholisierten und meist jungen Täter sehen nicht nur einen leicht zu attackierenden Hilflosen vor sich, sondern wähnen sich dabei oft genug als Vollstrecker des »gesunden Volksempfindens«. Derartige menschenverachtende Gewalt wird maßgeblich durch ein gesellschaftliches Klima genährt, in dem sozial Benachteiligte als »lebensunwerter Abschaum« gelten. Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer, der seit 2002 jährlich die Studie »Deutsche Zustände« über »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« veröffentlicht, warnte im Dezember 2010 beim Erscheinen der 9. Folge vor einer »Vereisung des sozialen Klimas«.5 Mehr als die Hälfte der Besserverdienenden hält demnach Langzeitarbeitslose für »willensschwach, an ihrer Lage selbst schuld und für die Gesellschaft nutzlos«. Fast 60 Prozent der Befragten finden es »empörend«, daß sich »Langzeitarbeitslose auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben« machen würden. 38,8 Prozent äußerten sich bereits 2007 negativ über Obdachlose, und 34 Prozent sprachen sich dafür aus, Bettelnde aus den Fußgängerzonen zu entfernen. Heitmeyer und seine Koautorin Kirsten Endrikat sehen die zunehmende Abwertung von Obdachlosen vor dem Hintergrund einer Ökonomisierung des Sozialen: »Ökonomistischen Bewertungskriterien können neben den Langzeitarbeitslosen weitere Gruppen zum Opfer fallen, die nur einen geringen oder gar keinen Beitrag zur Effizienzsteigerung der Marktgesellschaft beitragen. Letzteres gilt insbesondere für jene Personen, die in der Sozialhierarchie noch unter den Langzeitarbeitslosen stehen und deren Arbeitsmoral als noch geringer geschätzt wird: die Obdachlosen.«6
Obdachlose haben schon im Alltag kaum eine Lobby. Um so größer ist die Gefahr, daß ihre Ermordung durch faschistische Gewalttäter schnell wieder aus dem Blick der Öffentlichkeit entschwindet und sie aus den staatlichen Statistiken rechter Gewaltopfer herausfallen. Während von rassistisch motivierten Tötungen nach Recherchen von Zeit und Tagesspiegel »nur« etwa die Hälfte der ermittelten Fälle in der staatlichen Statistik fehlen, sind es bei den aus sozialdarwinistischen Motiven ermordeten Menschen über 70 Prozent.7
Gegen solche Schweigekartelle aus Justiz und Polizei, Regierung und Presse haben sich in mehreren Orten antifaschistische Initiativen gebildet, die gezielt das würdige Gedenken an solche vergessenen oder verdrängten Opfer rechter Gewalt wachhalten. Im Falle des eingangs genannten Dieter Eich fanden bereits anläßlich seines zehnten Todestags 2010 eine Reihe von Gedenkveranstaltungen und Demonstrationen unter dem Motto »Der Mensch hat eine Würde und keinen Wert« statt, die auf den Zusammenhang von gesellschaftlich legitimiertem Arbeitszwang und Stigmatisierung sozial Ausgegrenzter hinwiesen. In Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern) wurden im Jahr 2000, die örtliche Neonaziszene war stärker geworden, zwei Obdachlose ermordet. In der Nacht zum 24. Juni erschlugen ein 20jähriger Mann und zwei 18 Jahre alte Frauen, die alle der rechtsextremen Szene angehörten, den Obdachlosen Klaus-Dieter G., von dem sie zuvor Geld und Bier verlangt hatten. Das Landgericht Stralsund, das die Täter zu langjährigen Haftstrafen verurteilte, sah zwar eine eindeutig gegen Obdachlose gerichtete Tat aus niedrigen Beweggründen. Doch ein rechtsextremes Motiv wollte das Gericht nicht erkennen.
Wenige Monate später, am 24. November, ermordeten drei Jugendliche nach einer Kneipentour den obdachlosen Eckard Rütz mit Schlägen und Tritten auf den Kopf. Er habe ihn umgebracht, weil »so einer wie Rütz dem deutschen Steuerzahler auf der Tasche liegt«, gestand Maik J., der 16jährige Haupttäter. Während es anfangs kaum eine Reaktion auf den Mord an Rütz gab, initiierte die Antifa Greifswald 2005 das Bündnis »Schon vergessen«. Gemeinsam mit anderen Initiativen und Privatpersonen setzte sich das Bündnis für einen Gedenkstein für Rütz ein, der 2006 auf dem Mensa-Vorplatz eingelassen wurde. An jährlichen Gedenkveranstaltungen beteiligen sich inzwischen außer der Antifa auch Parteienvertreter von der Linkspartei bis zur Jungen Union, Abgesandte aus Kirchenkreisen und dem AStA.
Prozeßbegleitung
Wie wichtig es ist, noch vor Prozeßbeginn die Öffentlichkeit durch Demonstrationen und Pressearbeit zu sensibilisieren, zeigt das Engagement des Initiativkreises Antirassismus in Leipzig. In der Nacht auf den 24. Oktober 2010 erstach der gerade erst nach zwölfjähriger Haft wegen Vergewaltigung und Körperverletzung aus dem Knast entlassene 33jährige Marcus E. den 19jährigen Iraker Kemal Kilade mit einem Klappmesser. Kilade war zuvor einem Freund zu Hilfe gekommen, der von E.s 29jährigem Begleiter Daniel K. angegriffen worden war. Marcus E. und Daniel K., die sich im Gefängnis kennengelernt haben, machten aus ihrer neofaschistischen Gesinnung kein Geheimnis. Sie tragen Hakenkreuz- und SS-Tätowierungen, E. auch den Schriftzug »Rassenhass« auf der Haut. In E.s Wohnung fand die Polizei kistenweise Nazipropaganda. Daniel K. war früheres Mitglied der neonazistischen »Kameradschaft Aachener Land«, er wurde 2007 wegen Geiselnahme und gefährlicher Körperverletzung zu drei Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Ein klarer Fall eines rassistisch motivierten Mordes, so sollte man meinen. Doch als die Leipziger Staatsanwaltschaft im Februar Anklage erhob, warf sie dem Messerstecher Marcus E. nur Totschlag und seinem Mittäter Daniel K. gefährliche Körperverletzung vor. Weil Zeugen bei der Auseinandersetzung keine rassistischen Sprüche hörten, ging die Staatsanwaltschaft von einem alkoholbedingten rein zufälligen Zusammentreffen mit eskalierender Gewalt aus. Zwar zeigten beide Täter eine rechte Gesinnung, doch »hinreichende Anhaltspunkte für eine ausländerfeindliche Motivation der beiden Angeschuldigten bei der Tat haben die Ermittlungen nicht ergeben«, so die Staatsanwaltschaft. Daniel K., der noch Bewährung hatte, kam sogar aus der Untersuchungshaft frei. Doch in diesem Fall urteilte der Richter mutig und ging über das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß hinaus. Marcus E. erhielt 13 Jahre Haft und anschließende Sicherungsverwahrung wegen Mordes, der alkoholkranke Daniel K. erhält drei Jahre Maßregelvollzug wegen gefährlicher Körperverletzung. Das Gericht sieht es als erwiesen an, daß der Täter den jungen Iraker mit voller Absicht getötet hat. Zwar habe es sich um ein »beliebiges Opfer« gehandelt, doch aufgrund seines klar erkennbaren Migrationshintergrundes habe Kemal Kilade zum »Feindeskreis« der Täter gehört. »Der Messerstich erfolgte aufgrund der Tatsache, daß sich ein Ausländer im Kampf mit einem ›Kameraden‹ befindet und damit sein Leben ›verwirkt‹ hat«, führte der Richter mit bemerkenswerter Deutlichkeit das Motiv des Mörders aus. Wäre das Gericht der Logik der Staatsanwaltschaft gefolgt, dann zählte nun auch Kemal Kilade zu den »verschwiegenen Opfern Rechtsextremer«. Daß dies nicht geschah, ist auch den Leipziger Antirassisten zu verdanken, die von Anfang an die Untersuchung des Mordes mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit begleitet haben.
Anmerkungen
1 www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af_rechtsextremismus/zahlen_und_fakten/zuf_re_erfassungsmethodik_pmk.html
2 Der Westen, 16.9.2010
3 Mindestens 137 Todesopfer rechter Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland seit 1990, große Anfrage, Bundestagsdrucksache 17/5303 vom 29. März 2011
4 blog.zeit.de/stoerungsmelder/2010/09/16/eine-furchtbare-bilanz_4579
5 www.tagesschau.de/inland/deutschezustaende100.html
6 Wilhelm Heitmeyer/Kirsten Endrikat: Die Ökonomisierung des Sozialen. Folgen für »Überflüssige« und »Nutzlose«, in: Deutsche Zustände Bd. 6, S. 68
7 blog.zeit.de/stoerungsmelder/2010/09/16/eine-furchtbare-bilanz_4579