Artikel: Aufklärung Nebensache

Dafür wurden auf Bundes- und Länderebene mehrere Gremien eingerichtet, die sich nach offizieller Lesart um Aufklärung möglicher Versäumnisse der Sicherheitsbehörden bei Ermittlungen gegen den NSU bemühen und entsprechende politische Konsequenzen ziehen sollen.

Doch nicht bei allen diesen Gremien kann davon ausgegangen werden, daß Aufklärung tatsächlich die primäre Intention ihrer Mitwirkenden ist. So zielen die Unionsparteien in erster Linie auf eine weitere Stärkung ausgerechnet jener Sicherheitsbehörden, die so schmählich versagt und in einigen Fällen offenbar sogar mit der Naziszene kooperiert haben. Bereits im Dezember wurde ein gemeinsames »Abwehrzentrum Rechtsextremismus« aller Sicherheitsbehörden eröffnet. Und noch vor der ersten Sitzung des Bundestagsuntersuchungsausschusses, der ja erst mögliche Konsequenzen für die Behörden erkunden soll, legte der Bundesinnenminister dem Bundestag einen Gesetzentwurf zur Einrichtung einer neuen Verbunddatei Rechtsextremismus nach dem Vorbild der Antiterrordatei für Polizeibehörden und Geheimdienste vor. Der Tendenz einer undemokratischen Zentralisierung und Verschmelzung von Polizei und Nachrichtendiensten wird mit dem Abwehrzentrum und einer solchen Verbunddatei Vorschub geleistet, ohne daß deren Notwendigkeit für die Bekämpfung des Neofaschismus erwiesen wäre.

Eine im Februar vom Bundeskabinett beschlossene Bund-Länder-Kommission geht auf einen Vorschlag der SPD zurück. Diese erhoffte sich offenbar von so einer – ursprünglich als Alternative zum Bundestagsuntersuchungsausschuß gedachten – Kommission, ein Versagen der von der Sozialdemokratie während der aktivsten Zeit des NSU geführten Regierungsbehörden leichter deckeln zu können. Ein solches Gremium, dem die früheren Innensenatoren von Berlin und Hamburg, Erhart Körting (SPD) und Heino Vahldieck (CDU), der Münchner Strafrechtsexperte Eckart Müller und der einstige Bundesanwalt Bruno Jost angehören, soll nun nach dem Willen von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) lediglich die Erkenntnisse der Ermittlungsbehörden ohne eigene Untersuchungen bewerten.
Sachsen-CDU blockt
Nach Thüringen hat sich am 17. April auch im sächsischen Landtag ein Untersuchungsausschuß zu möglichen Versäumnissen und Fehlern der Behörden im Umgang mit den jahrelang unerkannt im sächsischen Zwickau lebenden NSU-Terroristen konstituiert, die im Freistaat mehrere Banküberfälle begingen. Die schwarz-gelbe Landesregierung hatte versucht, ein solches Gremium zu verhindern, das auch die fortgesetzte Ignoranz der sächsischen Behörden in Sachen Neonazismus etwa im Zusammenhang mit den alljährlichen faschistischen Großaufmärschen im Fe­bruar in Dresden zu thematisieren droht. So hatte der CDU-Abgeordnete Günther Schneider davor gewarnt, daß der Ausschuß durch die von der Geschäftsordnung vorgeschriebene Beteiligung der im Landtag vertretenen Faschisten zum »NPD-Informationsausschuß« über die Kenntnisse der Sicherheitsbehörden in Sachen Rechtsextremismus werde. Und der rechtspolitische Sprecher der mitregierenden FDP, Carsten Biesok, kündigte an, seine Fraktion werde »nichts tun, um den geplanten Untersuchungsausschuß mit Leben zu erfüllen«. Nachdem das Gremium schließlich allein mit den Stimmen von Linken, SPD und Grünen beschlossen wurde, zögerte die CDU die Wahl der Ausschußmitglieder vier Wochen mit der Behauptung heraus, in ihrer 56köpfigen Fraktion nicht über das nötige Personal zu verfügen. Bei der Wahl der Mitglieder am 4. April erhielt der NPD-Abgeordnete Arne Schimmer 18 Ja-Stimmen, obwohl die NPD nur über acht Abgeordnete verfügt. Abgeordnete der anderen Oppositionsparteien hatten offenbar ein Scheitern der Ausschußbildung bei Nichtwahl des NPD-Ombudsmannes befürchtet. Die Beteiligung des NPD-Vertreters, der damit ein Recht auf Akteneinsicht hat, vergiftet nicht nur die Arbeit in dem Gremium, sondern ist zudem ein Hindernis für die Zusammenarbeit mit dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuß (PUA) des Bundestages.
Aktenflut im Bundestag
Der Bundestagsuntersuchungsausschuß nahm unter Vorsitz des SPD-Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy bereits Anfang März seine Arbeit auf. Die Linksfraktion, die einen solchen Ausschuß als erste Fraktion bereits im November beantragt hatte, ist mit der Abgeordneten Petra Pau als Obfrau und dem Thüringer Abgeordneten Jens Petermann als ihrem Stellvertreter im elfköpfigen Ausschuß vertreten. Selbst zusammen mit den Grünen kann Die Linke so nicht das für die Stellung von Beweisanträgen nötige Quorum von 25 Prozent erreichen. Doch erweiterte Oppositionsrechte hatten Union und SPD abgelehnt.

Der PUA soll sich bis zum Frühjahr 2013 mit vier zeitlich gegliederten Untersuchungskomplexen befassen:

1) Die extreme Rechte von 1992 bis 1997 als Vorläufer und Hintergrund des NSU;

2) Das Abtauchen des Nazitrios und die Bildung des NSU in der Zeit von 1998 bis 2000;

3) Die Mord- und Anschlagsserie 2000 bis 2007;

4) Die Phase von 2007 bis zur Aufdeckung des NSU im November 2011.

Zur Klärung dieser Untersuchungskomplexe muß eine Dokumentenflut von bis zu 23000 in Frage kommenden Akten gesichtet werden. Nicht nur die pure Masse, auch umfassende Schwärzungen zum »Quellenschutz« und die befürchtete Weigerung der Länder bei der Herausgabe brisanter Unterlagen könnten sich als problematisch für die Arbeit des Ausschusses herausstellen. Unklar ist zudem, ob alle als Zeugen geladene Beamte Aussagegenehmigungen ihrer Ministerien bekommen.

Bereits bei einer ersten Expertenanhörung des PUA am 8. März mit Barbara John als Ombudsfrau der Angehörigen der NSU-Mordopfer, einer Vertreterin der Opferberatung aus Thüringen und vom Weißen Ring war die gänzlich fehlende Sensibilität der Sicherheitsbehörden für die Thematik Rassismus deutlich geworden. Jahrelang litten die Angehörigen der NSU-Mordopfer unter den Folgen falscher Verdächtigungen, da die Ermittler Verwicklungen der Toten mit dem Organisierten Verbrechen vermuteten, aber ein rassistisches Mordmotiv ausblendeten. So hatte auch der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) am Tag nach einem Bombenanschlag des NSU am 9. November 2004 in der vor allem von Migranten belebten Keupstraße in Köln erklärt: »Die Erkenntnisse, die unsere Sicherheitsbehörden bisher gewonnen haben, deuten nicht auf einen terroristischen Hintergrund, sondern auf ein kriminelles Milieu.« John forderte, bei der Polizeiausbildung die Realität von Deutschland als Einwanderungsland stärker zu berücksichtigen, damit bei Gewaltakten gegen Migranten immer auch in Richtung möglicher fremdenfeindlicher Hintergründe ermittelt wird. Als weiteres Beispiel fehlender Sensibilität der Behörden für die Opfer der rassistischen Morde benannte John die anfängliche Verrechnung von Sozialleistungen wie ALG II und BAföG mit den staatlichen Entschädigungszahlungen an die Angehörigen der Ermordeten.
Ignoranz der Behörden
Blumen zum Gedenken an den türkischen Internetcafé-B
Blumen zum Gedenken an den türkischen Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat, der in diesem Haus in der Kasseler Nordstadt am 6. April 2006 von der NSU-Terrorgruppe erschossen wurde
Foto: AP
Daß die Zwickauer Nazizelle keineswegs vom Himmel fiel, sondern ihre Wurzeln im neofaschistischen Sumpf hatte, der sich nach der »Wende« in den 1990er Jahren in Ostdeutschland unter Führung meist westdeutscher Nazikader herausbildete, zeigte die nächste Sachverständigenanhörung am 22. März. Insbesondere die seit Mitte der 90er Jahre intensiv in der faschistischen Szene recherchierende Fachjournalistin Andrea Röpke erläuterte anschaulich die Entstehungsbedingungen militanter Nazinetzwerke. So kam es im Zuge der von großen Teilen der Medien und Politik rassistisch geführten Asyldebatte von 1992, die mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts endete, zu einer Welle faschistischer Anschläge und pogromähnlicher Angriffe auf Flüchtlingsheime und von Migranten bewohnte Häuser mit mehreren Toten. Für die Nazis stellte sich dies als Form der Selbstermächtigung und Ermutigung durch die herrschende Politik dar. Es folgte eine zunehmend militante Organisierung der Nazis, die Mitte der 90er Jahre dazu übergingen, mit »Anti-Antifa«-Kampagnen ihre politischen Gegner öffentlich zu bedrohen. In dieser Phase kam es zu prägenden Kontakten der in der Nazikameradschaft »Thüringer Heimatschutz« aktiven späteren NSU-Mitglieder zu früheren Rechtsterroristen wie Manfred Roeder sowie dem international agierenden »Blood&Honour«-Netzwerk (B&H). In dem aus Naziskinheads und Rechtsrockbands gebildeten B&H, dessen deutsche Sektion im Jahr 2000 vom Bundesinnenministerium verboten wurde, habe es schon früh Debatten um »zellenartige Widerstandsgruppen« gegeben, die »aus dem Verborgenen heraus« operieren und Anschläge begehen sollten, erläuterte Röpke. Die späteren NSU-Terroristen verstanden sich demnach in der Illegalität als »Speerspitze dieser Bewegung«. Selbst der Obmann der Unionsfraktion im PUA, Clemens Binninger, gestand ein, solche von Röpke genannten Fakten über Strukturen und Beziehungsgeflechte der Naziszene meist vergeblich in den Berichten der Sicherheitsorgane gesucht zu haben. Diese Ignoranz der Behörden setzt sich bis heute fort, wenn etwa die Generalbundesanwaltschaft trotz zahlreicher mittlerweile ausgemachter Unterstützer der Nazis im Untergrund kein NSU-Netzwerk wahrnehmen will.

Mit der sogenannten Sicherheitsarchitektur bezüglich des Neofaschismus in Deutschland befaßte sich eine PUA-Anhörung am 29. März 2012. Deutlich wurde dabei: Ein Mangel an Gremien und Dateien, die sich in der einen oder anderen Form mit der extremen Rechten befassen sollten, besteht keineswegs. Die Staatsanwaltschaften eingerechnet existieren 59 verschiedene Sicherheitsbehörden auf Bundes- und Länder­ebene, führte der Sicherheitsforscher Professor Hans-Jürgen Lange von der Universität Witten/­Herdecke aus. Die Folgen dieser Vielzahl von Behörden seien Abstimmungsprobleme, Mehrfachzuständigkeiten, komplizierte Datenaufbereitung und lückenhafte Informationsübermittlung, benennt Lange strukturelle Probleme. Mitunter würden Behörden sogar gegeneinander arbeiten. Trotz dieser Probleme zeigte sich Lange »sehr skeptisch« gegenüber den von Unionsinnenpolitikern vertretenen Forderungen nach einer Zentralisierung oder Zusammenlegung der Behörden. Dies führe nicht automatisch zu mehr Effizienz, denn, so Lange, »Großbehörden sind wesentlich fehleranfälliger als dezentrale Einheiten«. Zudem verwies der Wissenschaftler auf das als Lehre aus dem Hitlerfaschismus geltende verfassungsrechtliche Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten als rechtsstaatlicher Errungenschaft, die nicht vermeintlichen Sachzwängen geopfert werden sollte. Bei einer häufig vorgeschlagenen Verringerung der Zahl der bislang 16 Landesämter für Verfassungsschutz durch Zusammenlegung drohte eine Verselbständigung von Behördenstrukturen, da die politische Verantwortung dann nicht mehr gegeben sei. Zudem sei unklar, wie die parlamentarische Aufsicht bei länderübergreifenden Geheimdiensten funktionieren solle.
Unzuverlässigste Quelle
Von einer »Sicherheitsarchitektur« könne auf der Ebene der Verantwortlichkeiten, der Koordination und der Kontrollrechte bislang keine Rede sein, kritisierte der Bielefelder Staatsrechtler Christoph Gusy als Sachverständiger. So sei das »Recht der inneren Sicherheit« und insbesondere das Verfassungsschutzrecht durch eine »auffällig hohe Zahl an unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensnormen gekennzeichnet«. Durch diese mit Sicherheitsargumenten begründete Regelungstechnik würden maßgebliche Steuerungsmechanismen in die Exekutive verlagert, kritisierte Gusy mangelnde demokratische Steuerung und Kontrolle der Geheimdienste. Als Beispiel dieser Regellosigkeit benannte er in seinem Gutachten den Umgang mit den V-Leuten des Verfassungsschutzes. Deren Einsatz wird im Verfassungs- und Polizeirecht zwar als »schwerwiegender Grundrechtseingriff« qualifiziert, doch »die meisten wichtigen V-Mann-Fragen sind gesetzlich ausgespart, rechtlich umstritten bzw. wenig geklärt und daher aus rechtlicher Sicht als offen zu bezeichnen«, beklagt der Experte. Die tatsächliche Bedeutung von V-Leuten dürfe dabei nicht überschätzt werden. Zwar könnten V-Leute Erkenntnisse aus überschaubaren, abgeschotteten Personenkreisen liefern, an die die Sicherheitsbehörden mit anderen Mitteln nicht herankommen. Doch zugleich seien die Informanten »die relativ unzuverlässigste Quelle der Sicherheitsbehörden«. Es bestehe die Gefahr, daß sich V-Leute wieder »umkehren« und die Behörden im Interesse der beobachteten Organisation ausspionieren oder deren Aktivitäten gar mit Behördengeldern am Leben gehalten werden. Während die anderen Parteien prinzipiell an deren Einsatz festhalten, will die Linksfraktion daher »schnellstens auf sämtliche V-Leute in der Naziszene verzichten«, denn »sie sind bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus bis heute eines der größten Hindernisse«.

So hatte die Durchsetzung der NPD-Gremien mit V-Leuten bereits zum Scheitern des ersten NPD-Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht geführt. Das Gericht hatte der Partei im Jahr 2003 »mangelnde Staatsferne« attestiert, da es nicht unterscheiden konnte, welche volksverhetzenden Äußerungen von »echten« Nazis stammten und welche von Geheimdienstspitzeln. Zwar haben sich die Innenminister von Bund und Ländern im März diesen Jahres endlich zur Abschaltung der V-Leute in den Führungsgremien der NPD durchringen können, um so den Weg zu einem neuen Verbotsverfahren prinzipiell freizumachen. Doch an anderen Stellen sollen Spitzel in der Nazipartei weiterarbeiten können. Der Erfolg eines neuen Verbotsverfahrens ist somit weiterhin fragwürdig.

Auch die NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe waren nach bisherigen Erkenntnissen von V-Leuten umgeben, was aber nicht zu ihrer Ergreifung oder zu Hinweisen auf die Taten beigetragen hatte. Diese Informanten verhinderten vielmehr eine frühzeitige Festnahme des Trios. Um seine V-Leute nicht zu gefährden, wurden etwa vom Thüringer Verfassungsschutz vorhandene Erkenntnisse und Infos zu den seit Januar 1998 untergetauchten Neonazis nicht an die Sicherheitsbehörden der Nachbarbundesländer weitergereicht. Harte Vorwürfe gegen die Thüringer Sicherheitsbehörden erhob in diesem Zusammenhang der Vater des zusammen mit seinem Kumpanen Uwe Böhnhardt nach einem Banküberall erschossen in ihrem Wohnmobil aufgefundenen Uwe Mundlos. Gegenüber der Polizei äußerte der 65jährige Informatikprofessor Siegfried Mundlos laut Focus (14/2012) die Vermutung, das Nazitrio habe nur durch »professionelle« Unterstützung zu »einer radikalen Mörderbande« werden können. Ohne direkte Einflußnahme des Verfassungsschutzes über den »selbstgegründeten und finanzierten Thüringer Heimatschutz« wäre es »nie zu den schrecklichen Straftaten« der Nazizelle gekommen, verweist Mundlos auf eine von einem Geheimdienstspitzel geführte Kameradschaft, der die späteren NSU-Mitglieder zuerst angehörten. Nach Mundlos’ Überzeugung war ein Sprengstoffund in einer von Beate Zschäpe angemieteten Garage in Jena im Jahr 1998 vom Verfassungsschutz »inszeniert« worden, um die drei Nazis in den Untergrund zu treiben und als Informanten in »Blood&Honour« einzuschleusen.
Geheimdienstchef im Zeugenstand
In den sieben nächsten Sitzungen des PUA ab 26. April – jeweils Donnerstags in den parlamentarischen Sitzungswochen – soll der Umgang der Sicherheitsbehörden mit der Mordserie untersucht werden. Bereits als Zeugen vorgeladen sind unter anderem die Leiter der Ermittlergruppe »BAO Bosporus«, die im Falle der fünf in Bayern vom NSU ermordeten Migranten nahezu ausschließlich in Richtung Ausländer- und Drogenkriminalität ermittelt hatten. Weitere geladene Zeugen sind der frühere bayerische Verfassungsschutzpräsident Wolfgang Weber und der frühere bayerische Innenminister Günther Beckstein (CSU) sowie mehrere BKA-Beamte. Der Thüringer FDP-Bundestagsabgeordnete Patrick Kurth, der seine Fraktion im Untersuchungsausschuß vertritt, kündigte unterdessen an, auch den früheren Chef des Thüringer Verfassungsschutzes, Helmut Roewer, vorzuladen. Der Jurist Roewer, der von 1994 bis 2000 den Geheimdienst leitete und mittlerweile im extrem rechten Ares-Verlag publiziert, gilt als Schlüsselfigur in der NSU-Affäre. So hat die Terroristengruppe ihre Wurzeln im neonazistischen »Thüringer Heimatschutz«, den Roewers mit 200000 D-Mark Spitzelhonorar entlohnter V-Mann Tino Brandt gegründet hatte. Ein der Frankfurter Rundschau vorliegender, als »vertraulich« klassifizierter Bericht des damaligen thüringischen Innenministers Karl Heinz Gasser (CDU) aus dem Jahr 2002 zeichnet ein verheerendes Bild von Roewers Amtsführung. Dem Bericht zufolge löste Roewer, der Neonazis im Unterschied zu linken Antifaschisten als »unproblematische Gruppen« bezeichnet hatte, 1999 das für Rechtsextremismus zuständige Referat auf und gliederte es offenbar ohne Kenntnis der Fachaufsicht im Innenministerium einer anderen Abteilung an. Hochrangige V-Leute in der Nazi­szene soll Roewer entgegen der Bestimmungen selbst »geführt« haben. Kurz vor seiner Suspendierung habe er noch vier Akten über den als V-Mann mit 30000 D-Mark bezahlten vorbestraften Thüringer Neonazi Thomas Dienel aus dem Amt geschafft. Bei Roewers Personalpolitik »drängt sich der Verdacht auf, daß es sich hier um Günstlingswirtschaft handelte«, heißt es in dem Bericht unter Verweis auf direkt von der Uni kommende Chemiker und Altphilologen, die ohne fachliche Kenntnisse als Referatsleiter eingesetzt wurden. Regelmäßig hätten sich Roewer und seine »Günstlinge« um ein Rotweinfaß in dessen Büro versammelt, während Kritiker dieser Praxis sich amtsintern bespitzelt fühlten. Über fingierte Werksverträge flossen rund 400000 D-Mark aus der Kasse des Verfassungsschutzes an einen von Roewer unter Pseudonym gegründeten Heron-Verlag in Erfurt. Ein diesbezüglicher Strafprozeß wegen Untreue wurde allerdings 2010 wegen »anhaltender Verhandlungsunfähigkeit« Roewers gegen eine Geldauflage von 3000 Euro eingestellt. Nachdem Roewer vor dem Weimarer Verwaltungsgericht mit dem Eilantrag scheiterte, den Gasser-Bericht vollständig zu sperren, soll dieser nun dem Thüringer Untersuchungsausschuß zur Auswertung vorgelegt werden.
Beschwichtigungspolitik
Entgegen dem hektischen Aktionismus der Bundesregierung nach Aufdecklung der NSU-Mordserie sind keine gesetzgeberischen Schnellschüsse zur Schaffung neuer Dateien und Abwehrzentren mit den damit verbundenen Grundrechtseingriffen notwendig, sondern ein Umdenken der politisch Verantwortlichen bei der Einschätzung der Gefahren von rechts. »Die Geschichte der politischen Bewertung rechtsextremer Gewalttaten in der Bundesrepublik ist gekennzeichnet durch Verharmlosung und Beschwichtigung.« Dieses Fazit zog die Linksfraktion aus der bisherigen Arbeit des Bundestagsuntersuchungsausschusses vor Ostern. So seien die Sicherheitsbehörden als Teil dieser Beschwichtigung zugleich ein Gradmesser dafür, wie wenig ernst eine Bedrohung von seiten der Politik und Gesellschaft überhaupt genommen wird. Erste Reaktionen auf rechte Gewalttaten lauten so in der Regel »Einzeltäter, entpolitisierte Jugendliche«, beklagt die Linksfraktion bei den Sicherheitsbehörden fehlende politische Sensibilität für Rechtsextremismus und Rassismus. »Fehlt diese Wahrnehmung und Einordnung, dann verschwinden die NSU-Morde ebenso wie ein Großteil der über 160 Todesopfer rechter und rassistischer Gewalt seit 1990 im Nirwana der allgemeinen Kriminalität.«