Bis zum 26. April hat die Bundesregierung Zeit, gegenüber der EU-Kommission eine Erklärung abzugeben, warum sie die europäische Richtlinie zur vorsorglichen Speicherung von Telekommunikationsdaten nicht umgesetzt hat. Dann droht eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof und die Verurteilung zu Strafzahlungen in Millionenhöhe. Dadurch ist Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), die Ende 2007 selbst als Oppositionsabgeordnete erfolgreich gegen die Vorratsdatenspeicherung geklagt hat, erheblich unter Druck geraten. Sie versucht, mit einem Gesetzentwurf für die anlaßbezogene Datenerfassung (Quick freeze) einen Kompromiß zustande zu bringen. CDU/CSU und SPD wollen jedoch die umfassende Überwachung.Die anlaßlose Speicherung der Telefon-, Handy- und Internetnutzungsdaten wurde bis 2005 vom Bundestag abgelehnt. Dann stimmte jedoch die Justizministerin der großen Koalition, Brigitte Zypries (SPD), in Brüssel der Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung zu, wonach diese Daten für sechs Monate für polizeiliche Zwecke vorzuhalten waren. Dagegen haben mehr als dreißigtausend Bürger Verfassungsbeschwerden erhoben. Mit Urteil vom 2. März 2010 hob das Bundesverfassungsgericht das entsprechende deutsche Gesetz wegen unzureichendem Datenschutzes auf.
Die Karlsruher Richter hatten aber nicht den Mut, die Vorratsdatenspeicherung gänzlich zu verbieten. Seitdem drängen Union und SPD auf die Wiedereinführung der Speicherung, während FDP, Linke, Grüne und Bürgerrechtler strikt dagegen sind. Die Bundesjustizministerin spielte auf Zeit. Sie berief sich darauf, daß eine nationale Neuregelung sinnlos sei, da alsbald eine veränderte EU-Richtlinie zu erwarten wäre. Zudem stehe eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs über die Gültigkeit der bisherigen Richtlinie bevor.Tatsächlich hat die zuständige EU-Kommissarin Cecilia Malmström schon am 4. März 2010 in der Welt erklärt: »Ich will die Direktive bis Ende des Jahres evaluieren lassen.« Ein Evaluierungsbericht der EU wurde dann am 18. April 2011 veröffentlicht, verbunden mit der Ankündigung, eine Neufassung der Richtlinie bis Ende 2011 vorzulegen. Dies geschah zwar nicht, aber es ist nicht zu übersehen, daß auch auf EU-Ebene eine Debatte in Gang ist. Daher kam es überraschend, daß die EU-Kommission plötzlich das schon früher begonnene, aber vor sich hin dümpelnde Vertragsverletzungsverfahren forcierte und am 26. März 2012 der Bundesregierung ein Mahnschreiben mit einer letzten Frist von einem Monat zustellte.
FDP-Generalsekretär Patrick Döring witterte eine Intrige von CDU und CSU, die versuchten, über die konservative EVP-Fraktion im Europäischen Parlament den Druck zu erhöhen. Als Indiz hierfür diente auch ein Schreiben an Kommissarin Malmström, in dem Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich am 28. Februar 2012 »erhebliche Einschränkungen bei der Verfolgung oder Verhütung von Straftaten« durch das »Fehlen von Verkehrsdaten aufgrund der Nichtumsetzung der Richtlinie« beklagte. Doch wie der grüne Bundestagsabgeordnete Konstantin von Notz in der Fragestunde des Bundestags vom 28. März 2012 deutlich machte, ist Friedrich für die Korrespondenz mit der EU in dieser Sache gar nicht zuständig, sondern das Justizministerium.
In das Verhalten der Unionsfraktion paßt ein von der Linksfraktion als skandalös bewerteter Vorfall vom 29. Februar 2012 im Innenausschuß des Bundestages. Der Freiburger Kriminologe Hans-Jörg Albrecht hatte in einem Gutachten für das Bundesjustizministerium festgestellt, daß es auch ohne Vorratsdatenspeicherung keine Schutzlücken gebe. Er kam aber kaum zu Wort, weil der Ausschußvorsitzende Wolfgang Bosbach (CDU) erst einmal den Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Jörg Ziercke, reden ließ. Albrecht konnte nach Protest der Opposition erst in einer weiteren Sitzung am 21. März 2012 seine Ergebnisse erläutern.Es ist offensichtlich, daß sowohl die EU-Kommission als auch die Unionsparteien nicht mehr weiter warten wollen. Die SPD dient sich ihnen dabei als willfähriger Partner für mehr Überwachung an. Ob die schwache FDP dem weiter standhalten kann und will, ist zweifelhaft. Schon im Mai könnte so der nächste Schritt in den Überwachungsstaat erfolgen.