Möglicherweise waren weitere Anschläge in dem Bundesland geplant. Rund ein Viertel der 10.000 von der NSU auf einem USB-Stick gespeicherten Adressen von Politikern, Kirchenvertretern und Vereinigungen gegen Rechtsextremismus befinden sich in NRW.
Im Bundestag sowie im sächsischen und thüringischen und nun auch im bayerischen Landtag befassen sich Untersuchungsausschüsse mit dem Versagen der Ermittler angesichts des rechten Terrors sowie mit der dubiosen Rolle der Geheimdienste. Dagegen ist es in Nordrhein-Westfalen erstaunlich still um die NSU-Affäre geworden.
Auch in NRW stellen sich eine Reihe von Fragen. Über welche Unterstützer vor Ort verfügten die im Untergrund lebenden NSU-Terroristen, als sie sich zumindest eine Zeitlang in NRW aufhielten, dort ihre Opfer ausspähten und die Anschläge vorbereiteten?
Warum schlossen die Ermittler bei dem Anschlag in der Keupstraße einen rechten Hintergrund von Anfang an aus und sahen die Täter Rotlichtmilieu? Warum wurde selbst nach dem späteren Auffinden eines Flugblattes, in dem der Anschlag als „ein Zeichen von Protest, eine Warnung“ angesichts vieler Ausländer in der Keupstraße bezeichnet wurde, ein rechter Tathintergrund ausgeschlossen? Und wie verblendet muss die Kölner Polizei sein, dass sie dieses Flugblatt, dass in der seit der Reichspogromnacht 1938 hinlänglich bekannten Aufforderung „Deutsche wehrt Euch!“ gipfelt, als eine Botschaft gegen Fremdenfeindlichkeit interpretierte?
Zu fragen ist auch, ob der NSU möglicherweise für weitere bislang ungeklärte Anschläge in NRW verantwortlich ist – auch für solche Verbrechen, bei denen die Ermittler einen rechtsextremen Hintergrund bislang ausschlossen, aber beispielsweise Migranten zu Schaden kamen oder von Migranten bewohnte Häuser brannten. Ein bislang ungeklärter Sprengstoffanschlag auf eine Gruppe jüdischer Aussiedler an einem Düsseldorfer S-Bahnhof, bei dem am 27. Juli 2000 zehn Menschen verletzt wurden, trägt so zwar die Handschrift des NSU, laut Ermittlern gibt es aber bislang keinen hinreichenden Verdacht für deren Täterschaft.
Welche Rolle spielten Verfassungsschutzämter in NRW im Zusammenhang mit dem NSU? Dass der neonazistische Thüringer Heimatschutz, aus dem sich der spätere NSU herausbildete, maßgeblich von einem V-Mann des Thüringer Verfassungsschutzes aufgebaut wurde und sich zudem in der rund 100-köpfigen Gruppe bis zu zehn weitere V-Leute befanden, ist mittlerweile bekannt. Vertuschungsversuche des Bundesamtes für Verfassungsschutz, das kurz nach Auffinden der toten NSU-Terroristen Bönhardt und Mundlos wichtige Akten zu seinem V-Leute-Einsatz schredderte, führten zum Rücktritt des Bundesverfassungsschutzpräsidenten Heinz Fromm. Die Rolle des hessischen Verfassungsschützers mit dem Spitznamen „Klein Adolf“, der bei einem der NSU-Morde in Kassel persönlich zugegen war und zeitnah zu weiteren Morden mit seinem V-Mann in der Naziszene telefonierte, wirft noch Fragen auf. Vor diesem Hintergrund muss gefragt werden, welche Rolle der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz mit seinen V-Leuten möglicherweise im Umfeld des NSU spielte? Bereits mehrfach machte der NRW-Geheimdienst Schlagzeilen durch seine Verwicklung in Nazibanden. So wurde der Neonazi Sebastian S. im Jahr 2008 von seinem V-Mann-Führer in einem Prozess wegen eines von ihm begangenen Raubüberfalls gedeckt. Damals kam heraus, dass S. mit Wissen des Verfassungsschutzes anderen Faschisten Waffen und Sprengstoff angeboten hatte. Doch der damalige Innenminister Ingo Wolf (FDP) untersagte Ermittlungen gegen den Verfassungsschützer. Auch beim Scheitern des NPD-Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht 2003 spielte der NRW-Verfassungsschutz eine entscheidende Rolle. Denn der als eine Art Kronzeuge für das Verbot dienende NPDF-Funktionär Wolfgang Frenz entpuppte sich als langjähriger V-Mann des Geheimdienstes, der seinen Agentenlohn in den Aufbau der Partei steckte.
Die logische Konsequenz aus dem Versagen der Verfassungsschutzämter wäre angesichts des rechten Terrors – oder besser: ihrer Kungelei mit Neonazis durch das V-Leute-Unwesen –ihre Auflösung. Doch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich und andere Innenpolitiker der schwarz-gelben Regierungskoalition besitzen die Dreistigkeit, als Konsequenz aus der NSU-Affäre eine Zentralisierung und Stärkung der Geheimdienste zu fordern. Mit einem Lagezentrum und einer Verbunddatei Rechtsextremismus fand bereits jetzt eine weitere Vernetzung von Polizei und Geheimdiensten statt. Doch auch die SPD-Grünen-Regierung in NRW steht davor nicht zurück. Im Koalitionsvertrag versteckt sich im Kapitel „Kampf gegen Rechtsextremismus“ der Satz: „Wir wollen dem Verfassungsschutz NRW die sog. Quellen-Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) ermöglichen und die gesetzliche Grundlage dafür schaffen.“ Im Klartext: unter dem Vorwand der Bekämpfung des Rechtsextremismus soll der NRW-Geheimdienst das Recht zum Einsatz von Trojanern zur geheimen Onlineüberwachung – natürlich nicht nur von Nazis – bekommen. Als im vergangenen Jahr in Bayern solche Trojaner entdeckt wurden, sorgte dies noch bundesweit für Aufregung und Ablehnung. Im grünen Wahlprogramm zum Düsseldorfer Landtag hat es folgerichtig noch geheißen: „Wir machen den ausufernden Überwachungsphantasien der Innenminister von CDU und SPD einen Strich durch die Rechnung.“ Das ist offenbar längst vergessen. Dass der Koalitionsvertrag auch einen Passus enthält, als Konsequenz aus dem Vertrauensverlust des Verfassungsschutzes die Arbeit des Geheimdienstes in NRW „transparenter“ zu gestalten, darf so gelinde gesagt als Veräppelung der Wählerinnen und Wähler verstanden werden.