Rede zu TOP 17 der 198. Sitzung des 17. Deutschen Bundestages Antrag der Fraktion Die Grünen „Für wirksamen Rechtsschutz im Asylverfahren – Konsequenzen aus den Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ziehen“ auf BT-Drucksache 17/8460
Wir behandeln heute abschließend einen Antrag der Grünen, in dem die volle Wiederherstellung des Eilrechtsschutzes bei Abschiebungen im Rahmen des Dublin-Systems gefordert wird. Innerhalb der EU ist im Regelfall der Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig, in den eine Person zuerst eingereist ist. Wenn Asylsuchende dennoch nach Deutschland weiterreisen, wird ihr Asylantrag nicht inhaltlich geprüft und sie müssen in das Ersteinreiseland zurückkehren, um dort ihr Asylverfahren zu betreiben. Im Zuge dessen erhalten sie einen Überstellungsbescheid. Eine Klage gegen diesen Bescheid hat allerdings keine aufschiebende Wirkung – dies wird nach geltendem Recht sogar ausdrücklich ausgeschlossen . Ein solches Verfahren widerspricht dem EU-Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz. Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass die Behörden der Mitgliedsstaaten nicht einfach automatisch von einer „Sicherheit“ in anderen Mitgliedstaaten ausgehen dürfen. Ernstliche Zweifel an der Funktionsfähigkeit des Asylsystems und den Aufnahmebedingungen des Staates, in den überstellt werden soll, müssen grundsätzlich überprüft werden können. Die unerträglichen Zustände in Griechenland, aber z.B. auch in Italien und Ungarn, führen das klar vor Augen. Deutsche Verwaltungsgerichte haben deshalb in mittlerweile hunderten Fällen entgegen des klaren Wortlauts des Asylverfahrensgesetzes einstweiligen Rechtsschutz verfügt.
Doch in der Bundesrepublik wird der Rechtsschutz nicht allein durch die Rechtslage ausgehebelt, sondern auch durch eine zutiefst rechtsstaatswidrige Behördenpraxis. Im Mai dieses Jahres hat die Abschiebebeobachtung am Flughafen Frankfurt/Main ihren Tätigkeitsbericht für das Jahr 2011 vorgelegt. Darin wird der Fall eines 18-jährigen Jugendlichen aus dem Sudan dargestellt. Gemäß der Dublin-Verordnung ist [ich hätte die Vergangenheitsform vorgezogen, auch im Folgenden…] Italien der zuständige EU-Staat. Der Jugendliche ist schwer traumatisiert, durch das stabile Umfeld einer Jugendhilfeeinrichtung befindet er sich auf dem Weg der Besserung. Doch dann wird er nachts aus der Einrichtung abgeholt und zum Flughafen gebracht. Weder die Einrichtung noch sein Anwalt werden vorher informiert. Anschließende Recherchen des Forums Abschiebebeobachtung ergeben, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die zuständige Ausländerbehörde aufgefordert hat, den Bescheid über die Überstellung erst zu übergeben, wenn die Überstellung selbst stattfindet. Damit hat der Betroffene keine Möglichkeit mehr, sich wirksam gegen seine Überstellung zur Wehr zu setzen.
Ein neueres Beispiel stammt aus dem August dieses Jahres. Da sollte ein Asylbewerber nach Italien zurückgeschoben werden. Das Verwaltungsgericht entschied jedoch, die Abschiebung dürfe nicht stattfinden, und erließ eine einstweilige Verfügung. Der Betroffene wurde da gerade zum Flieger gebracht. Die Bundespolizei wollte nicht auf den von der Ausländerbehörde telefonisch bereits angekündigten Beschluss warten und vollzog die Abschiebung in Kenntnis des Urteilsspruchs. Eine Minute, nachdem das Flugzeug seine Parkposition verlassen hatte, traf die richterliche Verfügung dann auch per Fax ein – zu spät. Inzwischen hat die Bundesregierung den Asylbewerber auf Staatskosten zurückholen müssen. Aber das Verfahren war eine unglaubliche Belastung und Zumutung für den Betroffenen, der in Europa Schutz vor Verfolgung sucht. Hätten seine Rechtsmittel gegen die geplante Überstellung aufschiebende Wirkung gehabt, wäre allen Beteiligten eine Menge erspart geblieben.
Die Bundesregierung weigert sich beharrlich, mir auf meine zahlreichen parlamentarischen Fragen zu dieser Zustellungspraxis auch nur einmal klar zu antworten. Erst eine neue Weisung des NRW-Innenministeriums an die Ausländerbehörden aus dem Juli hat bestätigt, dass das Bundesamt durch seine Vorgaben in der Praxis tatsächlich effektiven Rechtsschutz bewusst verhindert hat. In der Weisung aus Nordrhein-Westfalen heißt es, ich zitiere: „Das Bundesamt übermittelte die Rücküberstellungsbescheide in der Praxis an die Ausländerbehörden bislang mit der Bitte diese – möglichst am Überstellungstag – (…) zuzustellen.“ Nun sendet das Bundesamt den Dublin-Bescheid der zuständigen Ausländerbehörde zwei Wochen vor Termin zu – lässt aber fatalerweise komplett offen, wann er zugestellt werden soll.
Ich halte also fest, dass die Bundesregierung zur rechtsstaatswidrigen Praxis des Bundesamtes bewusst unzureichende Antworten gegeben hat. Nun hat das Bundesamt den schwarzen Peter den Ländern zugeschoben. Wann die Ausländerbehörden die Bescheide nun zustellen, bleibt ganz ihnen überlassen, zu befürchten ist daher, dass viele an der gängigen Praxis festhalten. Es kann aber nicht angehen, dass die Zustellung des Bescheids aus rein taktischen Erwägungen bis zur letzten Minute herausgezögert wird. Die Effizienz des Behördenhandelns wird mit einem solchen Vorgehen über den Rechtsstaat gestellt. Die Bundesregierung ist gefordert, hier endlich für eine einheitliche und rechtsstaatliche Praxis zu sorgen. Sobald feststeht, dass ein Asylbewerber in einen anderen Staat überstellt werden soll, muss das den Betroffenen auch rechtzeitig mitgeteilt werden.
In der ersten Debatte dieses Antrags haben Sie von der CDU/CSU geäußert, die Einführung eines effektiven Rechtsschutzes sei überflüssig. Denn es gäbe ja bereits das Selbsteintrittsrecht der EU-Staaten, von dem die Bundesrepublik im Falle Griechenlands auch Gebrauch mache. Da dort kein effektives Asylverfahren garantiert ist, werden auch keine Asylsuchenden nach Griechenland zurückgeschoben. Ich darf Sie daran erinnern, dass es zwei Jahre gedauert hat, bis sich diese Einsicht in der Bundesregierung durchgesetzt hat. Zwei Jahre, in denen Asylsuchende in Not und Elend abgeschoben wurden. Außerdem geht dieses Argument an der Sache vollkommen vorbei. Die Grünen fordern in ihrem Antrag, den individuellen Rechtsschutz von Asylsuchenden zu stärken. Dafür sollen Überstellungsentscheidungen gerichtlich überprüfbar gemacht werden. Das ist etwas vollkommen anderes als das Recht des Staates, von einer Überstellung im Einzelfall oder in bestimmte Länder abzusehen. Das ist ein reines Gnadenrecht. Wir wollen aber kein Gnadenrecht, sondern garantierte individuelle Grundrechte, deren Einhaltung von Gerichten überprüft werden kann. DIE LINKE stimmt dem Antrag der Grünen deshalb zu.
(Rede nach Vereinbarung der Abgeordneten zur Protokoll gegeben)