Im November jährt sich die Entdeckung der faschistischen Terrorzelle »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU). Die NSU-Mitglieder sollen für eine Mordserie an neun türkisch-kurdischen und griechischen Kleinunternehmern sowie eine Polizistin, für zwei Bombenanschläge auf Migranten und für 14 Banküberfälle verantwortlich sein. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse sollen klären, wie es möglich war, daß die nach Sprengstofffunden 1998 abgetauchten Nazis 13 Jahre lang unbehelligt im Untergrund leben – und morden – konnten. Die bisherigen Untersuchungsergebnisse offenbaren einen kaum für möglich gehaltenen Sumpf aus Geheimdiensten, ihren V-Leuten und militanten Neonazis. Deutlich wurde, daß die Verfassungsschutzämter immer wieder über ihre V-Leute nahe an dem Mordtrio dran waren, aber offenbar gar kein Interesse an dessen Ergreifung hatten. Die NSU-Affäre, in deren Folge bereits der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz und mittlerweile vier Länderpräsidenten zurücktraten oder in den Ruhestand versetzt wurden, hat sich längst zu einem der größten Geheimdienstskandale der Bundesrepublik ausgewachsen. Als Grundfragen stehen dabei im Raum: Hat der Inlandsgeheimdienst lediglich versagt oder erfolgte sein Handeln vielmehr gemäß seiner inneren Logik? Ist der Verfassungsschutz ein unverzichtbares und nur reformbedürftiges Instrument im Kampf gegen den militanten Neofaschismus? Oder entpuppt sich der Geheimdienst vielmehr als Förderer dessen, was er zu bekämpfen vorgibt? Um diese Fragen zu klären, soll das Verhältnis der Geheimdienste in der Bundesrepublik zum Rechtsextremismus untersucht werden. (…)
Fehlende Staatsferne
Insbesondere die bundesdeutschen Inlandsgeheimdienste, das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Verfassungsschutzbehörden der Länder, hatten immer wieder enge Kontakte zu Neofaschisten. Dies ergibt sich schon aus der Geschichte dieses Geheimdienstes. Im April 1949 gestanden die Westalliierten der Bundesregierung zu, »eine Stelle zur Sammlung und Verbreitung von Auskünften über umstürzlerische, gegen die Bundesregierung gerichtete Tätigkeiten einzurichten«. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges war mit einer »umstürzlerischen« Tätigkeit vor allem das Wirken der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) gemeint. Bei vielen Mitarbeitern des im September 1950 gebildeten Bundesamtes für Verfassungsschutz handelte es sich um bereits unter dem Hitlerfaschismus erprobte Antikommunisten aus dem Sicherheitsdienst SD, der Gestapo und SS. Mit Hubert Schrübbers (CDU) wurde 1955 ein ehemaliger SA-Mann Präsident des Bundesamtes.
Unter Schrübbers, der als ehemaliger NS-Staatsanwalt aufgrund seiner früheren Urteile gegen politisch und rassisch Verfolgte erst 1972 in den Ruhestand versetzt wurde, stiegen zahlreiche Altnazis in hohe Positionen des Geheimdienstes auf. »16 von 56 Verfassungsschutzbeamten sind ehemalige SS-Führer« hieß es am 31. August 1963 in der sozialdemokratischen Kieler Volkszeitung. Bundesinnenminister Hermann Höcherl (CSU) verwahrte sich unterdessen dagegen, »eine formelle Zugehörigkeit zur SS heute bereits als Verbrechen anzusehen«. Warum dies so war, erklärte die Tageszeitung Die Welt am 12. September 1963: »Der Sprecher des Innenministeriums hatte seinerzeit erklärt, daß die ehemaligen SS- und SD-Angehörigen schon deshalb nicht entlassen werden könnten, weil man auf ihre Erfahrungen nicht verzichten wolle.«
Der Feind steht links – dieses Credo teilten die stramm antikommunistisch eingestellten Geheimdienstmitarbeiter mit Nazivergangenheit, die im Verfassungsschutz den »Marsch durch die Institutionen« angetreten hatten, mit ihren alten Kriegskameraden, die 1964 die NPD als legale faschistische Partei gründeten. Schon bei den ersten V-Leuten des Verfassungsschutzes innerhalb der NPD dürfte es sich so weniger um eingeschleuste Spitzel gehandelt haben als vielmehr um Gesinnungsfreunde, denen die Verfassungsschützer auch finanziell wohlwollend unter die Arme griffen. Wie weit die Unterwanderung der NPD ging, zeigte das Scheitern des ersten, von Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat im Jahr 2001 beantragten Verbotsverfahrens gegen die NPD vor dem Bundesverfassungsgericht. Dieses Verfahren endete am 18. März 2003 mit einer Einstellung aus formalen Gründen, obwohl die Karlsruher Richter inhaltlich offenkundig von der Verfassungswidrigkeit der Partei überzeugt waren. Der Grund des Scheiterns dieses Verfahrens war die zutage getretene enge Durchsetzung der NPD-Gremien mit V-Leuten der Verfassungsschutzbehörden von Bund und Ländern. Für die Richter war so nicht mehr unterscheidbar, welche Handlungen und Beschlüsse der NPD noch »original« und welche in Wahrheit dem Staat zuzurechnen waren.
Diese Durchsetzung mit V-Leuten wurde zuerst anhand des nordrhein-westfälischen Landesverbandes der NPD deutlich, deren Landesvorsitzender und sein Vize sowie der Chefredakteur der regionalen Parteizeitung Deutsche Zukunft als Mitarbeiter des Geheimdienstes enttarnt wurden. Rund jeder sechste Führungsfunktionär der NPD soll bundesweit für einen Geheimdienst gearbeitet haben, so daß eine Sperrminorität von drei der sieben Verfassungsrichtern eine »fehlende Staatsferne« der faschistischen Partei konstatierte. Da von einer eigenständigen, staatlich unabhängigen Partei nicht die Rede sein könnte, könne sich die NPD auch nicht »selbstbestimmt« gegen das Verbotsverfahren verteidigen. »Die Beobachtung einer politischen Partei durch V-Leute staatlicher Behörden, die als Mitglieder des Bundesvorstands oder eines Landesvorstands fungieren, unmittelbar vor und während der Durchführung eines Parteiverbotsverfahrens ist in der Regel unvereinbar mit den Anforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren. Staatliche Präsenz auf der Führungsebene einer Partei macht Einflußnahme auf deren Willensbildung und Tätigkeit unvermeidbar.« Es sei daher nicht auszuschließen, »daß Personen mit ihren Äußerungen als Teil des Bildes einer verfassungswidrigen Partei präsentiert werden, die nachrichtendienstliche Kontakte mit staatlichen Behörden unterhalten oder unterhalten haben, ohne dies kenntlich zu machen und so die darauf folgenden Zurechnungsprobleme offenzulegen.« Entscheidend für diese Niederlage in Karlsruhe – und damit die Rettung der NPD – waren damit das dem damaligen Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) unterstellte Bundesamt für Verfassungsschutz und die Landesverfassungsschutzbehörden. Für die NPD-Führung, ihre Anhänger und Wähler kam die Verfahrenseinstellung einem Freibrief für ihre rassistische Hetze gleich. (…)
Aufbau von Nazistrukturen
Das scheinbare Erstaunen über die Durchsetzung der NPD-Gremien anläßlich des gescheiterten ersten Verbotsverfahrens oder jetzt über die Verwicklung von V-Leuten in das Umfeld des NSU zeugt von Geschichtsvergessenheit. Denn die bundesdeutsche Geschichte ist voll von V-Leuten, die nicht oder nicht nur Informationen an die Dienste lieferten, sondern ihre Spitzelgelder aktiv für den Aufbau neofaschistischer Strukturen nutzten, selber schwere Gewalttaten begingen oder schlicht als gewöhnliche Kriminelle mit staatlichem Schutz agierten.
Wohl einer der langjährigsten V-Leute innerhalb der Naziszene war Wolfgang Frenz, der bereits im Winter 1959/60 als Mitglied der faschistischen Deutschen Reichspartei erstmals Spitzelhonorare des NRW-Verfassungsschutzes kassierte. Frenz war NPD-Mitglied der ersten Stunde. Der nordrhein-westfälische Landesvorstand der NPD war laut Frenz über dessen VS-Tätigkeit informiert und hatte eingewilligt, um so an Gelder zu kommen. »Wenn Sie so wollen, hat der Verfassungsschutz die Grundfinanzierung der NPD in NRW geleistet«, erklärte Frenz gegenüber dem Stern (Bekenntnisse eines V-Mannes, 22.11.2011). Sein Agentenlohn stieg von 400 Mark während seiner Tätigkeit in der Reichspartei auf 800 nach NPD-Gründung und bald darauf auf 1000 Mark monatlich an. Im Bundestagswahlkampf 1967 habe er der Partei 10000 Mark aus Spitzelhonoraren überwiesen. Frenz ist überzeugt, einen Großteil seiner zehn Führungsoffiziere zu »überzeugten Nationaldemokraten« gemacht zu haben. »Ich hatte den Eindruck, daß ich mehr die geführt habe als die mich«, bekannte er im Dezember 2011 gegenüber der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung. Der V-Mann, der einige der übelsten im NPD-Verbotsverfahren angeführten antisemitischen und rassistischen Hetzartikel verfaßt hatte, wurde 1995 vom Geheimdienst wegen »fehlender Nachrichtenehrlichkeit« abgeschaltet.
Der Agent des nordrhein-westfälischen VS Helmut Krahberg war Anfang der 70er Jahre am Aufbau der »Europäischen Befreiungsfront« beteiligt, die offenbar Anschläge anläßlich eines Treffens von Bundeskanzler Willy Brandt und DDR-Ministerpräsident Willi Stoph in Kassel geplant hatte. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 19. Juli 1972 hieß es über Krahberg: »Ganz offenkundig gehörte er von Anfang an zum Spitzentrio, sei es als Agent provocateur oder als zum Mitspielen aufgeforderter Verfassungshüter.« »Was dürfen die eigentlich?«, fragte der Spiegel, nachdem bekannt wurde, daß der V-Mann des niedersächsischen VS Hans-Dieter Lepzien, der der Untergrundkaderstruktur NSDAP/AO angehörte, 1976/77 als Waffen- und Bombenbeschaffer der neofaschistischen »Gruppe Otte« fungiert hatte (Spiegel, 24.9.1984).
Ein weiterer V-Mann des niedersächsischen VS bis zum Jahr 1980 war Werner Gottwald, der als Gründungsmitglied der NSDAP/AO diese auch mit Waffen versorgte. Ebenfalls als V-Mann des niedersächsischen VS war Joachim Apel tätig, der Anfang der 80er Jahre einer »Kampfgemeinschaft Nationaler Sozialisten« Waffen beschaffte und an Brandanschlägen beteiligt war. Als V-Mann des NRW-VS erhielt Norbert Schnelle Mitte der 80er Jahre 14400 Mark, die er in den Aufbau der »Nationalistischen Front« steckte. Der 1992 als V-Mann des niedersächsischen VS angeworbene Sicherheitschef der kurz darauf verbotenen »Nationalistischen Front«, Michael Wobbe, rühmte sich später, daß ohne ihn »so mache Kameradschaft gar nicht erst entstanden« wäre. Der Aktivist der später verbotenen Freiheitlichen Arbeiterpartei (FAP), Andreas Szypa, ließ sich mit Zustimmung von zwei FAP-Funktionären, denen er die Abführung der Hälfte seines Agentenlohns an die Partei garantierte, 1988 als Spitzel des NRW-VS anwerben. Ein weiterer V-Mann des NRW-Dienstes, Bernd Schmitt, leitete eine Kampfsportschule. Darin verkehrten auch jene Neonazis, die 1993 in Solingen einen Brandanschlag auf ein von Migranten bewohntes Haus verübten, bei dem fünf Menschen starben. Anfang der 90er Jahre galt Bela Ewald Althans als einer der bekanntesten Neonazis in Deutschland. Nachdem er aufgrund einer in dem Film »Beruf Neonazi« getätigten Holocaust-Leugnung 1995 zu einer Haftstrafe verurteilt wurde, erklärte er seinen Ausstieg aus der Naziszene und wurde vom Spiegel als V-Mann des bayerischen VS entlarvt, was die Behörde allerdings abstritt.
Ein Rekordagentengehalt von 200000 DM erhielt der im Jahr 2001 enttarnte V-Mann des thüringischen VS Tino Brandt für seine mehrjährige Agententätigkeit unter dem damaligen VS-Chef Helmut Roewer. Brandt, der Ende der 90er Jahre zum stellvertretenden thüringischen NPD-Landesvorsitzenden aufstieg, steckte dieses Geld nach eigenen Angaben vor allem in den Aufbau des von ihm gegründeten und geführten »Thüringer Heimatschutzes«. Diesem Nazi-Kameradschaftsnetzwerk gehörten über 100 Neonazis an, von denen offenbar mindestens jeder zehnte zugleich für verschiedene Geheimdienstbehörden gearbeitet hatte. Die späteren NSU-Mitglieder waren ebenfalls vor ihrem Abtauchen im »Thüringer Heimatschutz« aktiv. Vom Verfassungsschutz erhielt Brandt nach dem Abtauchen des Trios 2000 DM zur Weitergabe an die gesuchten Neonazis, damit sich diese falsche Ausweispapiere kaufen konnten. Als die Polizei das Haus des V-Manns observierte, warnte ihn sein V-Mann-Führer und beschrieb ihm die Fahrzeuge der Überwacher.
Der 1997 angeworbene Agent des mecklenburg-vorpommerschen VS Michael Grube aus Grevesmühlen erhielt monatlich 500 bis 700 Mark Spitzellohn. Bei seiner Selbstenttarnung im Jahr 1999 erklärte Grube, er habe sich auf Weisung seiner V-Mann-Führer zum NPD-Kreisvorsitzenden in Wismar wählen lassen. Unter seiner Führung wuchs der Kreisverband von zwölf auf 50 Mitglieder an. Vor Gericht gab Grube an, nach seinem Übertritt in die andere Rechtspartei einen Brandanschlag auf eine von einem Migranten geführte Pizzeria aus Angst vor seiner Entlarvung als Spitzel verübt zu haben.
Ebenfalls für den mecklenburgischen VS tätig war laut Berliner Zeitung vom 11. Juli 2000 von 1998 bis zum Jahr 2000 Matthias Meier, der stellvertretender Landesvorsitzender der NPD und Gründer einer Wehrsportgruppe namens »Kampfbund Nord« wurde. Der Thüringer Verfassungsschutz führte unter seinem Chef Helmut Roewer jahrelang den damals bundesweit bekannten Neonazi Thomas Dienel als V-Mann. In den Jahren 1996/97 erhielt Dienel für seine bei rund 80 Kontakten überbrachten Informationen rund 25000 DM. Diesen Agentenlohn habe er als Spende für die Herstellung rechtsextremer Propagandamaterialien genutzt, gab Dienel an. Von seinen Agentenführern erhielt er nach eigenen Angaben auch Tips zu Polizeieinsätzen und Ermittlungsverfahren.
An V-Leute flossen allein in Thüringen zwischen 1994 und 2000 über 1,5 Millionen Mark an Spitzelgehältern. 2007 wurde Sebastian Seemann, der Rechtsrock-Konzerte für das verbotene Blood & Honour-Netzwerk organisierte, als V-Mann des NRW-Verfassungsschutzes entlarvt. Seemann handelte zudem mit harten Drogen und war in einen Raubüberfall auf einen Supermarkt verwickelt, bei dem ein Kunde schwer verletzt wurde. Bei Seemann fand die Polizei ein Waffendepot. »Seit einigen Jahren hat Sebastian Seemann jedem, den er kannte, scharfe Waffen und Sprengstoff angeboten und diese auch mit- und vorgeführt«, bestätigten Seemanns Nazikameraden (AIB 77, 4/2007). Der Verfassungsschutz deckte die kriminellen Aktivitäten seines V-Mannes und warnte ihn vor polizeilichen Ermittlungen wegen Drogenhandels. Als dies bekannt wurde, untersagte der damalige NRW-Innenminister Ingo Wolf (FDP) Ermittlungen gegen Seemanns V-Mann-Führer.
»Reaktionäre Hilfstruppen«
Verfassungsschutzpräsidenten und Unionsinnenpolitiker rechtfertigen den V-Mann-Einsatz innerhalb der Neonaziszene immer wieder mit dem Argument, andernfalls keine Informationen aus dem Inneren dieser Kreise bekommen zu können. Dem steht entgegen, daß kaum eine neofaschistische Straftat durch die V-Leute verhindert werden konnte und oftmals jede Antifagruppe besseres Wissen über örtliche Nazistrukturen hat als die Sicherheitsbehörden. Dagegen haben die Geheimdienste über ihre V-Leute neofaschistische Strukturen zum Teil erst initiiert, sie haben sie finanziell und personell erheblich gestärkt, Verbote und effektive Strafverfolgung verhindert, Neonazis erst zu Straftaten animiert oder diese gar selber begangen. Unter dem Strich bleibt so eine Stärkung der faschistischen Rechten in der Bundesrepublik durch das Wirken der Geheimdienste.
Daß der Verfassungsschutz pro forma auch die Neonazis – wohlweislich aber nicht solche Bindeglieder zwischen offenen Nazis und der bürgerlichen Rechten wie die völkisch ausgerichtete Deutsche Burschenschaft und die revanchistischen Vertriebenenverbände – in seinen Verfassungsschutzberichten benennt und die Sicherheitsbehörden zur Beruhigung der Öffentlichkeit von Zeit zu Zeit auch repressiv gegen Faschisten vorgehen, ist kein Widerspruch dazu. Dies hat schon Franz-Josef Strauß am 16. September 1970 im Bad Reichenhaller Vertrautenkreis geäußert. »Man muß sich der nationalen Kräfte bedienen, auch wenn sie noch so reaktionär sind. Hinterher ist es immer möglich, sie elegant abzuservieren. Denn mit Hilfstruppen darf man nicht zimperlich sein« (Der Spiegel 12/1970).
Faschisten dienen den bürgerlichen Parteien als Pressure Group bei der Durchsetzung einer autoritäreren Politik. Exemplarisch läßt sich dies an der faktischen Abschaffung des Asylrechts 1992 aufzeigen. Vorangegangen war eine von der Springer-Presse und den Unionsparteien getragene Kampagne gegen angeblichen Asylmißbrauch und eine »Asylantenflut«. Neonazis konnten sich mit einer solchen Rückendeckung bei ihren Anschlägen auf Asylheime und Migranten als Vollstrecker des »gesunden Volksempfindens« in Szene setzen. Unter Verweis auf den Naziterror konnten dann wiederum Unionspolitiker für die Abschaffung des Asylrechts eintreten. Unter dem so entfachten »Druck der Straße« knickte schließlich die SPD vor dem Hintergrund des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen ein und stimmte schließlich dem sogenannten Asylkompromiß zu.
Bekanntlich scheute sich einst selbst die SPD mit ihrem Kriegsminister Gustav Noske zu Beginn der Weimarer Republik nicht, im Kampf gegen die radikale Linke auf die Hilfe faschistoider Freikorps zurückzugreifen. Tausende Arbeiter und ihre politischen Führer – Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg – fielen diesen Freikorps zum Opfer. Angesichts der momentanen Schwäche der radikalen Linken steht ein solcher Einsatz von Neonazis in der Bundesrepublik nicht auf der Tagesordnung. Doch für Krisen- und Notzeiten ist eine derartige Option, Faschisten als Straßenkampfreserve einzusetzen, niemals auszuschließen.
Rechtsextreme Parteien sind zudem für die Herrschenden ein willkommenes Mittel, um den Einfluß der Linken zu schmälern. Parteien wie die NPD fangen mit ihrem völkischen Schein-Antikapitalismus die Stimmen von Unzufriedenen und Opfern der Wirtschaftskrise auf. Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Islamhaß sollen von den wirklichen Krisenursachen und damit vom Klassenkampf ablenken. Gleichzeitig binden Faschisten durch ihre Provokationen viele Kräfte auf der Linken – etwa bei der Organisierung von Blockaden gegen bundesweite Naziaufmärsche. Dadurch fehlt das Engagement dieser Linken an anderer Stelle, der Kampf gegen den Kapitalismus wird durch natürlich notwendige antifaschistische Aktivitäten verdrängt. Noch beweist das deutsche Parteiensystem – anders als in anderen europäischen Staaten – eine große Stabilität. Doch Umfragen und einzelne Landtagswahlergebnisse zeigen immer wieder, daß grundsätzlich ein Potential für eine Partei rechts von CDU/CSU existiert. Die Erfahrungen aus anderen europäischen Staaten belegen, daß die bürgerlichen Parteien keine Scheu haben, auf rechtsextreme Parteien als parlamentarische Mehrheitsbeschaffer zurückzugreifen. Es gibt für die Herrschenden also eine ganze Reihe von Gründen, nicht dauerhaft und entschieden gegen die Faschisten vorzugehen, sondern zumindest kleine faschistische Kerne am Leben zu halten und zu protegieren. (…)
Wer es also mit dem Antifaschismus ernst meint, kann nicht vor derjenigen Behörde haltmachen, die immer wieder eine effektive Verfolgung der Faschisten blockiert und sich oft genug als deren Förderin erwiesen hat. Die von großen Teilen der Linkspartei erhobene Forderung nach Abschaffung des Verfassungsschutzes als Geheimdienst und seiner Umwandlung in eine offen arbeitende wissenschaftliche Informations- und Dokumentationsstelle hat damit eine explizit antifaschistische Stoßrichtung.
Marxistische Blätter 6/2012: 100 Jahre nach Basel, Arbeiterbewegung und Frieden, 9,50 Euro; zu bestellen beim Neue Impulse Verlag, Hoffnungstr. 18, 45127 Essen; Tel: 0201/24 86 482; Fax: 0201/24 86 484; E-Mail: info@neue-impulse-verlag.de