Hessische Justizbehörden sind einer Selbsthilfsorganisation für gefangene Neonazis auf die Schliche gekommen. Das streng hierarchisch innerhalb der Gefängnisse organisierte Netzwerk hatte seinen Schwerpunkt in Hessen, erstreckte sich aber auch auf andere Bundesländer. Entsprechende Hinweise über Kontakte von Gefangenen zu der Organisation gibt es nach Angaben von Justizbehörden bereits aus Bayern, Schleswig-Holstein, Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Thüringen. Sie hat nach Erkenntnissen hessischer Behörden versucht, Verbindung zum Umfeld des rechtsterroristischen »NSU« aufzunehmen. Daß der ab kommender Woche in München als mutmaßlicher NSU-Terrorhelfer vor Gericht stehende ehemalige NPD-Funktionär Ralf Wohlleben deswegen im vergangenen Jahr bereits überraschend vom thüringischen Gefängnis Gräfentonna nach München verlegt wurde, wollte ein Sprecher des Thüringer Justizministeriums am Donnerstag nicht bestätigen. Die Verlegung war damals mit der Umgehung der Postzensur durch Wohlleben begründet worden.
Als Gründungsdatum nennt die »AD Jail Crew (14er)« den 20. April 2012 – Adolf Hitlers Geburtstag. Auch sonst spielt der Name dieser Knastkameradschaft mit Codes. AD ist eine Abkürzung für Aryan Defense, und die 14 bezieht sich auf das als »14 Worte« bekannte und insbesondere von US-Neonazis verwendete Glaubensbekenntnis zur »weißen Rasse«. Die Existenz der Organisation wurde spätestens im Oktober letzten Jahres bekannt gegeben, als der in der nordhessischen JVA Hünfeld einsitzende Führer der Kasseler Nazikameradschaft »Sturm 18«, Bernd Tödter, dafür auf der Jail-Mail-Seite der Zeitschrift Biker News warb.
Offenbar ist die Jail Crew zumindest Teil eines Nachfolgenetzwerkes der 2011 vom Bundesinnenministerium verbotenen »Hilfsorganisation für nationale politische Gefangene und deren Angehörige e.V.« (HNG). Die 1979 gegründete HNG umfaßte rund 600 Mitglieder aus allen Spektren des Neofaschismus – von der verbotenen Naziskinhead-Vereinigung Blood&Honour über Freie Kameradschaften und die Holocaustleugnerszene bis zur NPD. Nach eigenen Angaben betreute die Organisation regelmäßig zwischen 50 und 100 Gefangene einschließlich mehrerer NS-Kriegsverbrecher wie Erich Priebke und Josef Schwammberger sowie Naziterroristen wie dem wegen eines geplanten Anschlags auf den Neubau des jüdischen Zentrums in München im Jahr 2003 inhaftierten Martin Wiese. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) begründete das Verbot der HNG im September 2011 damit, daß es »nicht länger hinnehmbar sei, daß inhaftierte Rechtsextremisten durch die HNG in ihrer aggressiven Haltung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung bestärkt werden«. Auch nach dem HNG-Verbot spielte die Solidarität mit inhaftierten Gesinnungsgenossen für die Neonaziszene eine wichtige Rolle. Gefangenenhilfsorganisationen »genießen innerhalb der rechtsextremen Szene große Anerkennung«, heißt es in einer vergangene Woche vorgelegten Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion zu »Rechtsextreme Betätigung im Strafvollzug«. Solche Aktivitäten, »an denen Rechtsextremisten jeden Alters und unterschiedlicher Gruppierungen teilnehmen«, entfalteten eine »szeneübergreifende, verbindende Wirkung. Konkret nachgefragt, welche Ersatzorganisationen es nach dem Verbot der HNG gibt, verweist die Bundesregierung lediglich auf Internetseiten wie »JVA-Report«, »Kameraden in Haft« und die mittlerweile abgeschaltete Website »White Prisoner and Supporter Day« zur Unterstützung von inhaftierten Rechtsextremisten auch im Ausland. Genannt wird auch der in Schweden eingetragene Verein Gefangenenhilfe.info, der zu Geld- und Sachspenden für die »Opfer staatlicher Willkür« aufruft, die »in den bundesrepublikanischen Haftanstalten ihre Strafe verbüßen müssen«. Zu einem Zeitpunkt, an dem hessische Justizbehörden die AD Jail Crew unter die Lupe nahmen, behauptete die Bundesregierung weiterhin: »Die durch das Verbot der HNG entstandene organisatorische Lücke konnte durch andere rechtsextremistische Gefangenenhilfsorganisationen nicht geschlossen werden. Bislang konnten sich noch keine Nachfolge- oder Ersatzorganisationen etablieren.« Ein inhaftierter führender Aktivist der Jail Crew hatte nach Informationen der Süddeutschen Zeitung Ende 2011 dem Verfassungsschutz Informationen über Nazinetzwerke als Gegenleistung zu einer vorzeitigen Haftentlassung angeboten. Nicht auszuschließen ist also, daß die Jail Crew mit Wissen und Duldung des Geheimdienstes agierte.
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Nazi-Kaderschmiede Gefängnis
Eigentlich sollte man froh sein um jeden Nazischläger, der hinter Gittern sitzt und erst einmal keine Gefahr mehr für seine Mitmenschen auf der Straße darstellt. Einigen Neonazis gelingt während der Haft auch der Ausstieg aus der rechtsextremen Szene mit Hilfe von Organisationen wie Exit Deutschland. Doch vielfach ist das Gegenteil der Fall. Fachjournalisten und antifaschistisch orientierte Mitgefangene berichten, daß Haftanstalten für Neonazis einen regelrechten Aktionsraum zur Selbstorganisation darstellen. »Nicht selten können Neonazis Gefängnisaufenthalte nutzen, um ihre rassistische und menschenverachtende Propaganda zu verbreiten, Anhänger zu halten und neue Menschen anzusprechen«, warnt die Journalistin Olga Wendtke in einem Artikel auf der Website »netz-gegen-nazis«. »Die Hierarchien innerhalb von Gefängnissen passen optimal zur Ideologie von Neonazis.« Die Journalistin berichtet von Rechtsrockbands, die im Gefängnis gegründet wurden und Propagandaschriften, die in dortigen Werkstätten gedruckt wurden. So gründeten Neonazis in der Jugendhaftanstalt Hameln die »Kerkerkameradschaft Hameln«. Ein zuvor in gewalttätigen Nazikameradschaften in der Region Weserbergland organisierter Nazi verhalf dabei seinen Mitgefangenen zum Einstieg in die neofaschistische Szene. »Es ist nicht übertrieben, von einer ›neonazistischen Kaderschmiede‹ zu sprechen«, warnt das Netz-gegen-Nazis bezüglich der Gefängnisse, die als regelrechtes Karrieresprungbrett innerhalb der Naziszene dienen. Ein Beispiel ist der Dortmunder Neonazi Sven Kahlin. Im Jahr 2006 hatte der damals 17jährige unorganisierte Nazi-Skinhead den antifaschistischen Punker Thomas »Schmuddel« Schulz erstochen, als sich dieser über die rechten Parolen Kahlins beschwerte. Da der Vorsitzende Richter einen politischen Tathintergrund und die rechte Gesinnung Kahlins ausblendete, wurde dieser nicht wegen Mordes sondern nur wegen Totschlags zu sieben Jahren Jugendhaft verurteilt. Während seiner Haftzeit erhielt Kahlin Unterstützung durch die Hilfsorganisation für nationale Gefangene (HNG), die ihn in seiner faschistischen Gesinnung festigte. Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung im Jahr 2010 feierte die Naziszene Kahlin, der schon kurz darauf bei einem Überfall auf eine linke Kneipe erkannt wurde, als Held. Als Redner auf einer Demonstration in Hamm trug er kurz nach seiner Entlassung ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Was sollten wir bereuen?«. Kahlin, der dem im vergangenen Jahr verbotenen Nationalen Widerstand Dortmund beitrat, sitzt inzwischen aufgrund eines Angriffs auf zwei jugendliche Migranten wieder hinter Gittern.
Da Gefangene mit rechtsextremer Gesinnung in der Regel angepaßt und autoritätshörig sind, Hilfsaufgaben übernehmen und sich bei Protesten auf die Seite des JVA-Personals stellen, gelten sie bei den Schließern als pflegeleicht. Die Zeitschrift gefangenen info berichtete Ende letzten Jahres unter Berufung auf linke Gefangene von JVA-Bediensteten, die das rechte Treiben passiv tolerieren und teilweise auch selbst rassistisch agieren. »In den letzten Jahren ist der braune Gedanke unter den Gefängniswärtern wieder populär geworden«, schreibt der Gefangene Hubertus Becker aus der JVA Diez, der in diesem Zusammenhang von einer regelrechten »Wehrsportgruppe Strafvollzug« spricht. Das schlecht bezahlte junge Gefängnispersonal würde bevorzugt in den neuen Bundesländern unter ehemaligen Bundeswehrsoldaten und Afghanistan-Veteranen rekrutiert.
Die von der Bundesregierung auf eine aktuelle Anfrage der Linksfraktion aufgeführten Untersuchungen über den Anteil von Gefangenen mit rechtsextremen Hintergrund sind rund zehn Jahre alt. Nach den Ergebnissen einer Bestandaufnahme der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden aus dem Jahr 2003 betonten die meisten Bundesländer, daß nur wenige Gefangene »wegen rechtsextremistischer, fremdenfeindlicher oder antisemitischer Straftaten, insbesondere Gewalttaten« inhaftiert seien. Einzelne Länder teilten damals allerdings mit, daß die Zahl der Inhaftierten, die einer rechtsextremistischen Orientierung zuneigen, erheblich größer sei. Das brandenburgische Justizministerium schätzte damals diesen Anteil bei Jugendstrafgefangenen auf 25 bis 30 Prozent. Sachsen-Anhalt kam mit der Jugendstrafanstalt Halle im August 2000 auf einen Wert von 20 Prozent. Während hier keine aktuellen Untersuchungen vorliegen, sieht die Bundesregierung Hinweise, wonach sich in den neuen Bundesländern »durchgängig ein höherer Anteil entsprechender Straftäter« mit rechtsextremer Einstellung befindet als in den westdeutschen Gefängnissen.
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V-Leute im Knast
In ihrer kleinen Anfrage zum »Rechtsextremismus im Strafvollzug« (Bundestags-Drucksache 17/12797) wollte die Linksfraktion wissen, ob die Bundesregierung ausschließen könne, daß das Bundesamt oder ein Landesamt für Verfassungsschutz inhaftierte Neonazis als V-Leute anwerbe oder führe. Darauf antwortete die Bundesregierung wie folgt: »Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ist sich seiner besonderen Verantwortung im Umgang mit V-Leuten bewußt. Deshalb beachtet das BfV bei der Werbung und Führung von V-Leuten einen hohen Qualitätsstandard. Dementsprechend stehen begangene Straftaten und die daraus folgende Verurteilung eines Rechtsextremisten einer vertrauensvollen und verläßlichen Zusammenarbeit grundsätzlich im Wege, was sowohl eine Werbung, als auch eine weitere Zusammenarbeit ausschließt.« Für Landesverfassungsschutzbehörden scheinen solche »hohen Qualitätsstandards« nicht zu gelten. So wurde auf der Sitzung des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages am 28. Februar 2013 deutlich, daß der wegen Mordversuchs an einem Nigerianer zu einer Haftstrafe verurteilte Neonazi Carsten Szczepanski aus Königs Wusterhausen in den 90er Jahren vom Brandenburgischen Verfassungsschutz unter dem Decknamen »Piato« geführt wurde. Im Gegenzug zur seiner Spitzeltätigkeit, die Szczepanski 1994 dem Geheimdienst anbot, bekam er Hafterleichterungen bis hin zu einem auf das Innenministerium zugelassenen Handy. Im Gefängnis brachte der V-Mann das Nazi-Fanzine United Skins heraus, um anschließend als Freigänger und nach seiner Haftentlassung als Quelle in der Naziszene plaziert zu werden. Szczepanski, der zum engen Umfeld der NSU-Terroristen gehörte, setzte sich für den Aufbau einer Terrorgruppe nach dem Vorbild der britischen »Combat 18« ein, die als bewaffneter Arm des Naziskinhead-Netzwerkes Blood&Honour 1999 in London mehrere Bombenanschläge verübte. Nach seiner vorzeitigen Haftentlassung 1999 wurde Szczepanski zum NPD-Vorsitzenden von Königs Wusterhausen, bis er im Sommer 2000 vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel als Spitzel enttarnt wurde.