Erst vorige Woche hatte der Europäische Gerichtshof ebenfalls schwere Rechtsverstöße bei der deutschen Abschiebepraxis festgestellt.
Das Urteil bezieht sich auf die sogenannte Überstellungshaft, die bislang regelmäßig angeordnet wird, wenn ein Asylsuchender nach einer unerlaubten Einreise von der Bundespolizei aufgegriffen und in einen anderen EU-Staat abgeschoben (im Amtsdeutsch »überstellt«) werden soll. Im konkreten Fall hatte ein Pakistani geklagt, der Ende Dezember vorigen Jahres bei der Einreise nach Deutschland festgenommen wurde, wo er einen Asylantrag stellte. Weil er aber einen solchen schon in Ungarn eingereicht hatte, sollte er dorthin geschickt werden. Die Ungarn lehnten seine Aufnahme wiederum mit dem Hinweis ab, der Mann sei über Bulgarien in die EU gereist. Hintergrund dieses Zuständigkeitsstreits ist die sogenannte Dublin-Verordnung, die besagt, daß ein Asylantrag in dem EU-Staat bearbeitet werden soll, den ein Flüchtling zuerst betritt. Bis zur Klärung müssen Flüchtlinge in sogenannter Überstellungshaft sitzen, was bisher in der Regel mit »Fluchtgefahr« begründet wurde.
Genau das hat nun aber der BGH moniert: Für eine solche Inhaftierung verlangt die Neufassung der EU-Verordnung, die seit Januar dieses Jahres gilt (»Dublin III«) objektive Kriterien, die in einem Gesetz nachprüfbar genannt werden müssen. Die gibt es im deutschen Aufenthaltsgesetz aber nicht, da ist lediglich vage von einem »begründeten Verdacht« die Rede. Ausländerbehörden und Richter haben damit einen großen Beurteilungsspielraum, den sie häufig zu Ungunsten der Flüchtlinge auslegen. Das ist dem BGH zufolge aber rechtswidrig. In der Entscheidung heißt es eindeutig, »daß nach der gegenwärtigen Gesetzeslage die Haft zur Sicherung von Überstellungsverfahren nicht auf Fluchtgefahr« gestützt werden könne.
Denkbar sei eine Inhaftierung allenfalls dann, wenn die Betroffenen untertauchen oder zum angekündigten Überstellungstermin nicht erscheinen.
Hunderte profitieren
Vom Urteil dürften Hunderte, wenn nicht Tausende Flüchtlinge jährlich profitieren. Exakte amtliche Angaben über die aktuelle Zahl von Abschiebungshäftlingen gibt es dabei nicht: Die Bundespolizei nimmt die Flüchtlinge zwar fest, führt aber angeblich keine Statistik darüber, und die Bundesregierung verweist auf die Zuständigkeit der Bundesländer. Nach Angaben der unabhängigen Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter saßen voriges Jahr 4812 Menschen vor ihrer Abschiebung im Gefängnis. Nach Schätzungen von Anwälten und Flüchtlingsorganisationen sind 60 bis 80 Prozent aller Abschiebungshäftlinge Dublin-Fälle. Die Haftdauer beträgt meist weniger als sechs Wochen.
Die Linksfraktion hatte bereits im März die Bundesregierung auf die Unvereinbarkeit der Haftpraxis mit der Dublin-Regel hingewiesen. Antwort der Regierung damals: Das mache nichts, weil die Inhaftierung der Flüchtlinge nun mal notwendig sei, um sie wie vorgesehen in die zuständigen EU-Länder abzuschieben. Mit dieser Ansicht hat sie nun eine krachende Bruchlandung hingelegt. Leidtragende sind die zu Unrecht ihrer Freiheit beraubten Schutzsuchenden. Die Linksfraktion sprach in einer Presseerklärung von einem »permanenten Rechtsbruch an den Schwächsten in dieser Gesellschaft«.
Es handelt sich um die zweite schwere Klatsche für das deutsche Abschiebesystem innerhalb kurzer Zeit: Vorige Woche hatte der Europäische Gerichtshof festgestellt, daß die Gepflogenheit vieler Bundesländer, Abschiebehäftlinge im normalen Strafvollzug unterzubringen, gegen EU-Recht verstoße. Wenn schon, müßten sie in speziellen, weniger einschränkenden Einrichtungen untergebracht werden.
Im Bundesinnenministerium wird seit einiger Zeit an einer Neuformulierung des Aufenthaltsgesetzes gearbeitet. Die Linksfraktion fordert dagegen, jetzt nicht einfach eine rechtliche Grundlage für die weitere Inhaftierung von Flüchtlingen zu zimmern: »Statt dessen sollte die Bundesregierung einfach mal innehalten und sich vor Augen führen: Asylsuchende sind keine Verbrecher, die man einsperren muß. Sie verdienen ein faires Verfahren. Abschiebehaft ist nicht nur rechtlich, sondern auch humanitär ein Desaster«, heißt es in einer Presseerklärung. Weiter fordert die Linksfraktion, alle Dublin-Häftlinge sofort zu entlassen und den zu Unrecht Eingesperrten Entschädigungen zukommen zu lassen.