In der griechischen Internetzeitschrift Toxwni, einem bewegungsorientieren linken Medium, habe ich ein längeres Interview zur Frage der Entschädigung für griechische NS-Opfer gegeben. Das Interview wurde auf Englisch gegeben, hier eine (eigene) deutsche Übersetzung.
– Europastaatsminister Michael Roth erklärte neulich, die Frage der Reparationen sei unter juristischen Gesichtspunkten endgültig geklärt. Das ist dieselbe Position, die die Berliner Regierung schon mehrfach vertreten hat. Die Linke scheint da eine andere Meinung zu haben, wenn wir die Anfragen ihrer Parlamentsfraktion betrachten. Trifft das zu? –
Die Fraktion DIE LINKE hat zahlreiche sogenannte Kleine Anfragen ins Parlament eingebracht, die sich mit der Frage der Reparationen für die Verbrechen beschäftigen, die die Nazis während des Zweiten Weltkrieges begangen haben. In diesen Anfragen halten wir fest, dass eine Menge Opfer bis heute keine Entschädigung erhalten haben, und wir verlangen, sie in die bestehenden Entschädigungsregelungen einzubeziehen. Dabei erwähnen wir insbesondere griechische Opfer, vor allem den Distomo-Fall, italienische Opfer (die Opfer von Massenerschießungen, die sich 1944 und 1945 in Norditalien ereignet haben, und die Zwangsarbeiter, die sog. Italienischen Militärinternierten), jüdische Ghettoarbeiter, Opfer des sogenannten Euthanasieprogramms, und sowjetische Kriegsgefangene (weil die Umstände ihrer Gefangenschaft KZ-ähnlich waren).
In unseren Anfragen fordern wir für alle, die unter Nazi-Gräueltaten gelitten haben, oder deren Angehörige ein Recht auf Entschädigung.
Die Argumentation der Bundesregierung empfinden wir als ausgesprochen zynisch. Jahrelang hat sie den Opfern gesagt, sie sollten warten, bis Deutschland eien Friedensvertrag mit der früheren Anti-Hitler-Koalition geschlossen habe, und als dies 1990 in Form des Zwei-plus-Vier-Vertrages geschah, behauptete die Regierung, es sei „zu spät“ für jedwede Forderungen: Es wäre „ohne jede Präzedenz“, 65 Jahre nach einem Krieg Reparationen zu verlangen. Ich sage: Die Naziverbrechen waren „ohne jede Präzedenz“, und die deutsche Regierung hätte die Entschädigungen schon lange vor 1990 zahlen sollen.
Die Bundesregierung meint, der Zwei-plus-Vier-Vertrag befreie Deutschland von seiner Pflicht, jegliche Reparationen zu zahlen. Der Bundesgerichtshof teilt diese Meinung leider. Aber Griechenland hat, wie auch Italien, den Vertrag nicht unterzeichnet, diese Länder haben in der Charta von Paris 1990 lediglich Kenntnis von ihm genommen. Die Rechtslage ist damit keineswegs so eindeutig wie die deutsche Regierung uns glauben machen will. Umso klarer sollte die politische und moralische Position sein: Deutschland muss seine Verbrechen wiedergutmachen, soweit das möglich ist, und zurückzahlen, was es geplündert hat.
– Deutschland hat schon unter dem Naziregime mit der Rückzahlung der Zwangsanleihe begonnen, die Griechenland auferlegt wurde. In ihrer Anfrage vom Februar 2014 erwähnen Sie, das Wissenschaftliche Dienst des Bundestages gehe davon aus, die Zwangsanleihe müsse getrennt von der Reparationsfrage behandelt werden. Heißt das, Griechenland hat immer noch Rechtsansprüche für Forderungen, zumindest bezüglich der Zwangsanleihe? –
Was die Rückzahlung der Zwangsanleihe angeht, bereite ich derzeit sowohl auf der Ebene der Partei als auch der Fraktion einen Antrag vor. Für diesen Zweck habe ich die Studie des wissenschaftlichen Dienstes des Parlaments angefordert.
Man muss dazu wissen, dass dieser Dienst ziemlich vorsichtig ist, wenn es darum geht, sich politisch festzulegen. Sie machen dort wissenschaftliche Arbeiten, Literaturrecherche. Sie legen sich daher nicht fest, ob die Zwangsanleihe zum Bereich der Reparationen gehört oder zum Bereich „normaler“ Schulden und Kredite. Was sie sagen, ist: unter juristischen Aspekten kann (!) man die Zwangsanleihe als Teil von Reparationsforderungen sehen, aber man kann sie auch davon abgliedern und wie jede andere Kreditschuld behandeln. Und an diesem Punkt würde ich nochmal betonen: Die juristische Angelegenheit mag kompliziert sein, aber politisch und moralisch gesehen muss Deutschland zahlen, und Griechenland sollte die Rückzahlung verlangen. Wenn es um Naziverbrechen zu tun hat, sollte man nicht mit juristischen Winkelzügen ankommen.
– Gab es seit dieser Studie weitere Entwicklungen? –
Nein, absolut nicht. Die Position der Bundesregierung scheint unumstößlich. Wie schon in der Vergangenheit, ist sie nicht bereit, freiwillig Reparationen und Entschädigungen zu gewähren, sondern nur unter politischem und wirtschaftlichem Druck. Und wir wissen ja alle, dass Griechenland nicht in der Lage ist, auf Deutschland einen solchen Druck auszuüben, wie es beispielsweise damals die USA waren, als sie die Forderungen nach einem deutschen Entschädigungsprogramm für Zwangsarbeiter unterstützt hatten.
– Was wäre aus Ihrer Sicht der beste Weg für Griechenland, um die Angelegenheit zu lösen und erfolgreich Reparationen zu erhalten? Der diplomatische Weg? Das EU-Parlament? Der Internationale Gerichtshof? –
Der Internationale Gerichtshof ist für diese Probleme nicht zuständig. Sie wissen ja, dass die Bundesregierung Italien in Den Haag verklagt hatte, nachdem der Verfassungsgerichtshof in Rom das Recht italienischer und griechischer Nazi-Opfer, in Italien Entschädigungen zu fordern, bestätigt hat. Der IGH hat Deutschland Recht gegeben.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat die Forderungen griechischer Opfer ebenfalls zurückgewiesen, mit dem Argument, Einzelpersonen seien nicht berechtigt, Entschädigungen für Staatsverbrechen zu fordern, die während des Zweiten Weltkrieges begangen worden waren.
Einer der möglichen Schritte für Griechenland wäre, die deutsche Regierung vor einem deutschen Gericht anzuklagen und die Rückzahlung der Zwangsanleihe zu fordern. Dafür ist es wichtig, die Zwangsanleihe vom Gesamtthema der Reparationen zu trennen. Ich wage nicht vorherzusagen, wie deutsche Gerichte eine solche Forderung entscheiden würden.
Was die Reparationen angeht, sowohl auf staatlicher als auch individueller Ebene, wird es notwendig sein, den diplomatischen Weg zu beschreiten, weil ja alle juristischen Wege blockiert sind. So wie ich das Völkerrecht verstehen, ist die Frage, wie viel Geld Deutschland genau schuldet, ein Ergebnis diplomatischer Verhandlungen. Die schwierigste Aufgabe besteht darin, die Bundesregierung überhaupt dazu zu bringen, in Verhandlungen einzuwilligen. Wenn sie nicht dazu bereit ist, hat Griechenland nicht viele Mittel, um irgend etwas zu erreichen. Und an diesem Punkt sehe ich es als Aufgabe meiner Partei, meiner Fraktion und des deutschen Parlamentes an, die Bundesregierung zu zwingen, Griechenland solche Verhandlungen anzubieten. Wie schon erwähnt bereiten wir einen Antrag dazu vor.
– Sollte die Frage der Reparationen mit der Frage der griechischen Schulden gegenüber Deutschland in Verbindung gebracht werden? –
Ich würde diese Themen nicht vermischen. Was die Zwangsanleihe angeht, hat der griechische Staat ein Recht darauf, zurückzubekommen, was die Nazis gestohlen haben, ohne weitere Bedingungen und Forderungen. Aber wenn wir über Entschädigungen für individuelle NS-Opfer reden, bin ich sehr stark dagegen, irgendwelche Zahlungen an den Staat zu leisten. Wenn Gelder gezahlt werden, gehört es den alten Menschen, die den Nazi-Terror überlebt haben, oder ihren Angehörigen, und nicht Staaten, Banken und Gläubigern.
– Das deutsche Volk ist für die Handlungen des Naziregimes in den besetzten Ländern während des Zweiten Weltkrieges nicht verantwortlich und sollte sich auch nicht dafür verantwortlich fühlen. Aber glauben Sie, dass die deutsche Regierung die griechischen Forderungen politisch instrumentalisiert hat? Was würden Sie einem deutschen Bürger sagen, der diese Forderungen für plumpen Populismus hält, oder für ein Ergebnis der Unwilligkeit Athens, Reformen umzusetzen? –
Das ist genau das, was ich mitunter zu hören bekomme. Um ehrlich zu sein: Ich bin sicher, dass es auf beiden Seiten Populismus gibt. Griechische Politiker fordern hin und wieder Entschädigungen, aber sie haben niemals irgendwelche entscheidenden juristischen oder diplomatischen Vorstöße in dieser Richtung unternommen. Ich habe gehört, dass im griechischen Parlament eine Untersuchung über den Umfang der Reparationen durchgeführt wurde, aber die ist geheim. Wenn sie sie nicht veröffentlichen, sieht es natürlich so aus, als wollten sie das Thema gar nicht ernsthaft angehen.
Was deutsche Bürger angeht: Sie sind nicht verantwortlich für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges, aber wir sind dafür verantwortlich, wie wir heute mit diesen Verbrechen umgehen. Deutschland entschädigt selbstverständlich deutsche Nazi-Opfer, die in Deutschland leben, mit welchem Argument kann es also Entschädigungen woanders verweigern? Für Menschen, die Opfer unserer, deutschen, Nazis oder ihren Kollaborateuren, die wiederum von Deutschen befehligt wurden, geworden sind?
Davon abgesehen wäre es absolut unberechtigt, die Opfer für die gegenwärtige Politik der griechischen Regierung verantwortlich zu machen.
– Die Summe, die Deutschland an Reparationen schuldet, wird auf bis zu 70 Milliarden Euro geschätzt. Aber die griechische Regierung vermeidet es in der Regel, diese Angelegenheit auf die Tagesordnung zu setzen, so als wolle sie die Beziehungen zu Berlin nicht stören. Gleichzeitig erzählt man dem griechischen Volk, es schulde über 280 Milliarden Euro, und es müsse diese Summe bezahlen. Wie würden Sie das sehen, wenn Sie eine griechische Bürgerin wären? –
Über die Höhe der Beträge bin ich wirklich nicht sicher. Es gibt zu viele Faktoren, wenn Sie zum Beispiel den Wert der früheren Reichsmark in Euro umrechnen. Aber ich kann gut nachvollziehen, wenn Griechen den Eindruck haben, Deutschland verhalte sich janusköpfig. Die Bundesregierung zögert nicht, Schulden von Griechenland zurückzuverlangen, auch wenn das bedeutet, die griechische Bevölkerung in regelrechte Armut zu stoßen, aber sie weigert sich, ihre eigenen Schulden zu bezahlen. Das ist offensichtlich zynisch und verlogen.
Wir versuchen zu betonen, dass sowohl die griechische Regierung als auch die griechische Bevölkerung zu Recht fordern, Deutschland solle endlich zurückzahlen, was es gestohlen hat, und individuelle Entschädigungen gewähren. Deutschland muss die Entscheidungen griechischer Gerichte im Distomo-Fall anerkennen. Eine Friedhofsruhe muss verhindert werden, und es muss ein politisches Klima geschaffen werden für die Forderungen der Nazi-Opfer nach fairen Verhandlungen.
(Das Interview wurde VOR der Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichtes zur Zulässigkeit von Entschädigungsklagen geführt!)