Rede im Bundestag: Massensterben an den EU-Außengrenzen verhindern – sichere Zugangswege für Flüchtlinge schaffen

Ulla Jelpke (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Bosbach, kein Mensch flieht ohne Not, verlässt sein Land ohne Not und möglicherweise auch seine Familie.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Max Straubinger (CDU/CSU): Das stimmt halt nicht so!)
Anlass für den Antrag der Linksfraktion, über den wir heute hier reden, waren die Tragödien, die sich im Herbst vorigen Jahres im Mittelmeer vor der Insel Lampedusa ereigneten. Dort sind 400 Menschen ertrunken. Eine Woche später gab es ein weiteres Unglück mit 250 Toten. Ich möchte hier einmal die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini, zitieren, die damals von einem regelrechten Massaker an den Flüchtlingen gesprochen hat. Es sei wie im Krieg, sagte sie, und weiter:
Ich bin mehr und mehr davon überzeugt, dass die europäische Einwanderungspolitik diese Menschenopfer in Kauf nimmt, um die Migrationsflüsse einzudämmen … dass ihr Tod für Europa eine Schande ist.
(Beifall bei der LINKEN)
Genau das ist der Grund, warum die europäische Flüchtlingspolitik grundlegend geändert werden muss. Das UNO-Flüchtlingswerk bzw. der UNHCR führt eine grausame Statistik über die Menschen, die seit Jahren im Mittelmeer ums Leben gekommen sind. Fast 2 Prozent aller Flüchtlinge im Mittelmeer sind darin ertrunken. In diesem Jahr gab es allein bis Ende August mindestens 3 200 Tote. Je dichter die Abschottung, desto gefährlicher werden die Fluchtrouten. Das treibt die Todeszahlen in die Höhe. Dieser grausamen Logik muss man endlich ein Ende bereiten.
(Beifall bei der LINKEN)
Doch leider kommt von den für diese Flüchtlingspolitik Verantwortlichen, Herr Bosbach, außer Betroffenheitsfloskeln überhaupt nichts. Es heißt einfach: Weiter so! An diesem Montag zum Beispiel sind 24 Flüchtlinge im Bosporus ertrunken; sie wollten über das Schwarze Meer, um nach Rumänien, also nach Europa, zu gelangen. Das ist das Ergebnis der Politik der Abschottung an den EU-Außengrenzen. Das Massaker, von dem Frau Nicolini sprach, fordert jeden Tag neue Opfer. Einzig Italien hat noch im Oktober vorigen Jahres eine Aktion unter dem Titel „Mare Nostrum“ gestartet. Wir alle wissen, dass Italien ein Asylsystem mit schweren Mängeln hat. Aber für diese Rettungsaktion verdient das Land Anerkennung.
(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Italien hat die EU um Unterstützung gebeten. Deutschland und auch kein anderer EU-Staat waren aber bereit, sich an den Kosten zu beteiligen, Herr Kollege Bosbach. Diese Aktion kostet in der Tat monatlich 9 Millionen Euro; diese Kosten könnten aber auf viele EU-Staaten verteilt werden.
Statt „Mare Nostrum“ und Seenotrettung hat die EU am Montag dieser Woche mit einem Einsatz zur Grenzüberwachung begonnen, den sie „Triton“ nennt. Er bedeutet noch mehr Abschottung, kostet aber nur 3 Millionen Euro im Monat. Man stellt sich hier doch ernsthaft die Frage: Ist es billiger, die Menschen ertrinken zu lassen, als sie zu retten und sich auch für Rettungsaktionen einzusetzen? Für solch einen Zynismus können wir nur abgrundtiefe Verachtung empfinden.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Der Bundesinnenminister hat vor einigen Wochen mit anderen Kollegen aus EU-Staaten einen Brief an das EU-Innenkommissariat gesandt. Was steht in dem Brief? Ehrlich gesagt, nur die alte Leier: dichtere Überwachung der EU-Außengrenzen, engere Zusammenarbeit mit Transitstaaten, um Flüchtlinge schon in Afrika aufzuhalten, verstärkte Bekämpfung von Schleuserbanden, aber kein Wort zur Rettung von Flüchtlingen. Auch der Innenminister hat meiner Meinung nach aus den Tragödien, die wir im vergangenen Jahr im Mittelmeer erlebt haben, überhaupt nichts gelernt.
Stattdessen pflegt er eine absolut unangemessene bürokratische Kleinkariertheit, wenn er etwa darüber doziert, im Rahmen von Frontex dürfe nur Grenzüberwachung durchgeführt werden und Frontex habe für Seenotrettung – ich zitiere ihn – „weder das Mandat noch die erforderlichen Ressourcen“. Ich sage Ihnen: Für die Rettung aus Seenot braucht man kein Mandat. Im Gegenteil: Das ist eine Pflicht. Wer sich dieser Pflicht bewusst verweigert, macht sich an weiteren Massakern mitschuldig. Ich gebe Herrn Bosbach recht, dass hier etwas passieren muss und nicht nur geredet werden darf.
(Beifall bei der LINKEN)
Noch etwas. Wenn Frontex nicht dafür geschaffen ist, Flüchtlinge zu retten, dann, so sagt die Linke, muss Frontex eben abgeschafft und durch ein effektives Seenotrettungssystem ersetzt werden.
Was die Bekämpfung von Schleusern angeht, will ich die Frage aufwerfen: Haben Sie sich eigentlich schon einmal überlegt, dass es Schleuser nur deswegen gibt, weil sich die EU weigert, dafür zu sorgen, dass Flüchtlinge auf legalem Wege nach Europa kommen können? Es ist doch die EU selbst, die die Flüchtlinge damit regelrecht in die Hände von Schleusern treibt. Die richtige Antwort, die wir in unserem Antrag beschreiben, lautet deswegen nicht: „Noch mehr Repression und noch mehr Abschottung“, sondern: Menschen in Not muss, ohne dass sie sich in Lebensgefahr begeben müssen, ermöglicht werden, in Europa Asyl zu beantragen. Das könnte ganz einfach durch eine Liberalisierung der Visapolitik geschehen.
(Beifall bei der LINKEN)
Statt mit Staaten wie Libyen zu kooperieren, wo Flüchtlinge eingesperrt sind – übrigens zurzeit 100 000 – oder einfach in der Wüste ausgesetzt werden, gilt es, Kapazitäten für Aufnahmeprogramme zu schaffen, die in akuten Lagen wie etwa jetzt in der Syrien-Krise auch kurzfristig greifen. Es ist doch ein Trauerspiel – ich sage ja nicht, dass wir nichts tun -, dass es Monate und Jahre dauert, bis wir in Deutschland ein paar Tausend Flüchtlinge aus Syrien aufnehmen, nur weil wir dabei eine unglaubliche Bürokratie an den Tag legen.
Meine Damen und Herren, es muss endlich das unwürdige Dublin-System abgeschafft werden, mit dem Schutzsuchende gezwungen werden, in dem Land Asyl zu beantragen, das sie zuerst betreten haben. Für die Flüchtlinge bedeutet es eine inhumane und zudem völlig nutzlose Schikane, wenn sie in Deutschland noch vor der Prüfung ihres Asylantrages festgenommen und zum Beispiel nach Italien abgeschoben werden.
Übrigens hat erst gestern der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wieder festgestellt, was vielen Flüchtlingen in Italien blüht – das ist vielen immer noch nicht klar -: Entweder sie bleiben ganz ohne Unterkunft, oder sie werden in überfüllte Lager mit – so das Gericht – gesundheitsgefährdenden und gewalttätigen Zuständen gesteckt. – Es ist wesentlich humaner – es spricht überhaupt nichts dagegen -, sie dorthin gehen zu lassen, wo sie Verwandte haben, wo sie die Sprache beherrschen, wo sie besser integrierbar sind. Innerhalb der EU könnte das auch mit einem Finanzausgleich geregelt werden.
Meine Damen und Herren, zum Schluss kann ich nur an das Haus appellieren: Die europäische Flüchtlingspolitik tötet. Deswegen ist es an der Zeit, sie radikal zu ändern. Mit noch mehr Abschottung wird nur noch mehr Tod und Leid provoziert. Ein Weiter-so in der europäischen Flüchtlingspolitik darf es einfach nicht geben. Deswegen werden wir noch weitere Anträge einbringen, zumal Sie diesen Antrag heute ablehnen werden. Es muss endlich etwas passieren, damit Menschen nicht mehr ums Leben kommen.
Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

1800288_Massensterben_an_EU-Außengrenzen_LINKE.pdf