Artikel: Das tägliche »Paris«

Überlegungen zu den Anschlägen in der französischen Hauptstadt: Sie können nicht aus dem Kontext der Weltordnung gelöst werden.

 

Von Ulla Jelpke
(erschienen in der junge Welt am 19.01.2015)

Die Anschläge von Paris müssen ohne Wenn und Aber verurteilt werden. Die Morde in einem koscheren Supermarkt waren ein judenfeindlich motiviertes Verbrechen, das Massaker an Redakteuren und Karikaturisten der Satirezeitschrift Charlie Hebdo und an mehreren Polizisten war ein Angriff auf die Presse-, Meinungs- und Religionsfreiheit. Dazu gehören auch die Freiheit, sich zu keiner Religion zu bekennen, und die Freiheit, eine Glaubensgemeinschaft zu kritisieren. Die ermordeten Charlie Hebdo-Mitarbeiter waren ihrem politischen Selbstverständnis nach Linke, radikale Demokraten und überzeugte Laizisten. Ihre oftmals beißenden und manchmal geschmacklosen Karikaturen trafen christliche Würdenträger ebenso wie den Propheten des Islam, französische Regierungspolitiker ebenso wie den faschistischen Front National und den nordkoreanischen Staatschef. Das unterscheidet Charlie Hebdovon rechtsextremen Islamhassern, die sich zwar gern der Mohammed-Karikaturen bedienen, um Muslime zu provozieren, aber nach dem Staatsanwalt rufen, wenn sie »christliche Werte« in religionskritischen Veröffentlichungen beleidigt sehen.

Aus diesem Grund muss auch jeder Versuch scheitern, die Attentäter zu »Rächern der Unterdrückten«, insbesondere von Muslimen, zu stilisieren, als die sich selbst offenbar inszenieren wollten.

Ein ermutigendes Zeichen ist, dass sich Millionen Menschen mit den Ermordeten und ihren Familien solidarisiert haben. Auch viele Muslime und muslimische Würdenträger waren an Kundgebungen beteiligt. Sie haben deutlich gemacht: Die Mörder von Paris haben ebensowenig das Recht, ihre Bluttat mit dem Islam zu rechtfertigen, wie sich der norwegische Massenmörder Anders Breivik bei seinem durch Islamhass motivierten Blutbad auf das Christentum berufen konnte.

Doch sollten wir uns hüten, mit zweierlei Maß zu messen. Wir können nicht nur die Anschlagsopfer im Herzen des europäischen Kontinents betrauern und zu den Hunderttausenden und Millionen Toten infolge westlicher Weltordnungskriege, Interventionen, Embargos, von außen angeheizter Bürgerkriege und als Regime Change umschriebener Putsche schweigen.

Die Anschläge von Paris können nicht aus dem Kontext einer

Weltordnung gelöst werden, in der sich die islamisch geprägten Staaten – ebenso wie die Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas – seit Jahrhunderten andauernden kriegerischen Aggressionen, kolonialer Unterwerfung, willkürlicher Aufteilung und Ausplünderung durch westliche Großmächte ausgesetzt sehen. Gerade der französische Imperialismus kann nicht nur auf eine lange und blutige Kolonialvergangenheit unter anderem in Algerien zurückblicken. Er ist weiterhin hauptverantwortlich für Kolonialkriege im Nahen Osten und Afrika – von Libyen bis Mali und Zentralafrika. Asymmetrische Kriege, in denen sich die Schwachen oft genug terroristischer Mittel bedienen, sind die Folge.

Diese Kriegs- und Kolonialpolitik der NATO-Staaten und die – in Frankreich noch stärker als in Deutschland erkennbare – soziale Ausgrenzung der Mehrheit der in Ghettos an Stadträndern zusammengepferchten muslimischen Bevölkerung bringt besonders radikalisierte Fanatiker hervor, die sich berufen fühlen, als Rächer aufzutreten. Die massenhafte Ablehnung ihrer Terroranschläge auch durch Muslime zeigt, dass dies ein Irrglauben war. Die Terroristen stehen nicht stellvertretend für die muslimische Welt – aber sie glauben das, sie ziehen daraus ihre Motivation. Und das hängt damit zusammen, dass ihre Erfahrung, unterdrückt zu sein, kein Irrglaube ist – die Unterdrückung der »Dritten« durch die »Erste« Welt ist vielmehr ganz real und allgegenwärtig.

Diese Unterdrückung spiegelt sich auch in beständig anwachsender – und von Regierungsseite befeuerter – Fremden- und insbesondere Islamfeindlichkeit in den europäischen Metropolen wider. Die Pegida-Bewegung in Dresden und der Front National in Frankreich sind nur der sichtbarste Ausdruck einer bis tief in die sogenannte Mitte der Gesellschaft reichenden muslimfeindlichen und rassistischen Grundstimmung.

Wer um die Toten von Paris trauert, sollte sich zudem bewusst sein, dass die heutigen dschihadistischen Strömungen zu einem Großteil ein Produkt westlicher Politik gegenüber der islamischen Welt sind. Der militante Dschihadismus – aus dem sich sowohl die Taliban als auch Al-Qaida und der »Islamische Staat« entwickelten – wurde bereits in den 80er Jahren in Afghanistan von den USA als Gegengewicht gegen die dortige Linksregierung und die von ihr zu Hilfe gerufenen sowjetischen Truppen gefördert, finanziert und bewaffnet. Mit der durch westliche Kriegsallianzen betriebenen Zerschlagung zwar diktatorisch regierter, aber säkularer oder in klarer Frontstellung gegen den militanten Islamismus stehender Staaten im Irak, in Libyen und aktuell in Syrien wurde die Büchse der Pandora geöffnet. Dschihadistische Gruppen drangen in das so entstandene Machtvakuum. Gruppen wie der »Islamische Staat« und die Al-Nusra-Front gelangten durch die von den USA, der EU, der Türkei und den Golfmonarchien betriebene Hochrüstung der gegen die syrische Regierung kämpfenden Verbände in den Besitz modernster Waffen.

Der Zulauf, den dschihadistische Strömungen in der jüngsten Vergangenheit haben, insbesondere der »Islamische Staat«, muss für uns ein Alarmsignal sein. Der »Islamische Staat« gibt verheerend falsche Antworten auf ein Problem, das real ist: Imperialismus, Rassismus und Krieg durch die kapitalistischen Staaten. Es spricht nichts dagegen, dass Linke sich an breiten Trauer- und Solidaritätskampagnen gegen den IS-Terror beteiligen. Zugleich müssen sie aber klarmachen, dass sie nicht an der Seite der Herrschenden stehen. Den Regierenden imperialistischer Staaten müssen wir immer vorhalten, dass die Toten, die sie verursachen, weit zahlreicher sind als die von Attentätern Getöteten. Der türkische Ministerpräsident, die deutsche Kanzlerin, der israelische Premier – sie alle schaffen Tag für Tag ein solches »Paris«. Und damit schaffen sie eben den Kontext, der den Rattenfängern der Dschihadisten einen beständigen Zulauf neuer selbsternannter Märtyrer garantiert.