Artikel: Hausgemachte Krise

Wegen Krieg und Terror gibt es immer mehr anerkannte Fluchtgründe. Die Bundesregierung rechnete dennoch die Zahl der Schutzsuchenden herunter

Von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt am 22.09.2015)
 

Wenn aufgeregte Politiker und Medien angesichts des massiven Anstiegs der Flüchtlingszahlen über angeblichen Asylmissbrauch und die Notwendigkeit einer Drosselung des »Zustroms« schwadronieren, geraten nüchterne Fakten schnell in den Hintergrund: Mehr als die Hälfte aller Asylanträge in Deutschland werden anerkannt. Etwa jedem zweiten Schutzsuchenden bescheinigt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), schutzbedürftig im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention oder als Kriegsflüchtling zu sein. Und nicht nur das: Die Anerkennungsquoten sind in den vergangenen Jahren beständig gestiegen. Dies zeugt also gerade nicht von »Missbrauch«, sondern im Gegenteil von einer Zunahme von Fluchtgründen.

Die Bundestagsfraktion der Partei Die Linke erkundigt sich jedes Quartal nach Details aus der Asylstatistik, die von der Bundesregierung nicht bekanntgemacht werden – zum Teil, so ist zu vermuten, weil sie kein Interesse daran hat, dass bestimmte Zahlen in die öffentliche Debatte gelangen. Im zweiten Quartal 2015 haben 19.856 Menschen einen Flüchtlingsschutz erhalten, die allermeisten von ihnen auf Grundlage von Paragraph 3 Absatz 1 Asylverfahrensgesetz. Darin wird die Flüchtlingseigenschaft an die begründete Furcht des Schutzsuchenden »vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe« gebunden. Diese 19.856 Anerkennungen machen 35,3 Prozent aller entschiedenen Asylanträge aus – also nur etwas über ein Drittel. So stellen es die Bundesregierung bzw. das BAMF gerne dar. Was dabei unter den Tisch fällt: Einige tausend Asylanträge werden in Deutschland nicht inhaltlich entschieden, sondern »erledigen« sich aufgrund formaler Kriterien: Die betreffenden Flüchtlinge werden in ein anderes EU-Land überstellt, sind nicht mehr erreichbar oder haben ihre Anträge zurückgezogen. Die Linksfraktion erkundigt sich deshalb gezielt nach den Entscheidungen, die sich auf eine inhaltliche Prüfung beziehen. Die Quote der dabei erfolgten Anerkennungen – im Amtsjargon »bereinigte Gesamtschutzquote« – betrug im zweiten Quartal 47,8 Prozent. Dazu kommen noch einige hundert Fälle, bei denen die Flüchtlinge vor Gericht erfolgreich gegen eine zunächst ablehnende Entscheidung klagten. Etwa zehn Prozent solcher Gerichtsverfahren waren im letzten Jahr erfolgreich.

Auch 2014 wurden 48,5 Prozent aller inhaltlich geprüften Asylanträge positiv bewertet. Interessant ist ein Vergleich mit den Vorjahren: 2013 belief sich die Quote auf 39,3 Prozent, im Jahr 2010 gar auf nur 27,6 Prozent. Das zeigt: Der Anstieg der Flüchtlingszahlen hat nichts mit einem Missbrauch zu tun; die Fluchtgründe werden heute öfter als plausibel bewertet als in der Vergangenheit – und zwar im Rahmen der bestehenden Gesetze, die ja längst nicht alle legitimen Fluchtgründe berücksichtigen.

Erhebliche Unterschiede gibt es hinsichtlich bestimmter Herkunftsländer. Fast zwei Drittel aller positiven Entscheidungen bezogen sich im zweiten Quartal 2015 auf syrische Flüchtlinge – diesen 12.886 Antragsteller wurde Asyl zugesprochen. Aus dem Irak wurden 3.064 Flüchtlinge anerkannt, die Quote lag hier bei 99,7 Prozent; danach folgten Menschen aus Eritrea (98,9 Prozent). Extrem gering fällt hingegen die Anerkennung von Flüchtlingen vom Westbalkan aus: Nur zwischen 0,2 und 0,4 Prozent der serbischen, albanischen, kosovarischen, mazedonischen, montenegrinischen und bosnischen Flüchtlinge hatten Glück, insgesamt waren das im zweiten Quartal gerade einmal 68 Personen.

Die Asylstatistik belegt überdies, dass politische Verfolgung längst nicht mehr nur von Staaten oder Regierungen betrieben wird. Im Falle Iraks und Afghanistans ist es fast ausschließlich die Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure, die zur Asylanerkennung führt – sprich der Terror des »Islamischen Staates« bzw. der Taliban, vor dem die Betroffenen keine inländische Ausweichmöglichkeit haben. Auch von den syrischen Flüchtlingen wird ein gutes Viertel wegen Verfolgung durch verschiedene nichtstaatliche bewaffnete Gruppierungen anerkannt.

Lange Verfahrensdauer

Bis es zu einer Entscheidung über ihren Asylantrag kommt, müssen die Flüchtlinge teilweise sehr lange warten. Das Bundesamt nimmt eine »Priorisierung« vor: Jene Fälle, die als relativ »leicht« beurteilt werden (schnelle Anerkennung oder schnelle Ablehnung), sollen vorrangig bearbeitet werden; alle anderen werden nachgeordnet. Antragsteller mit hoher Anerkennungschance werden zunehmend in einem rein schriftlichen und damit schnelleren Verfahren bearbeitet.

Allerdings hat das Bundesamt in den zurückliegenden Monaten immer mehr Fälle als »prioritär« erklärt: Neben dem Westbalkan, Syrien, Irak und Eritrea zählen auch die sogenannten Dublin-Fälle dazu, für deren Asylantrag ein anderes EU-Land zuständig sein soll. Vorrangig behandelt werden sollen auch Flüchtlinge, die einen Folgeantrag stellen. Solche Fälle machen mittlerweile an die 90 Prozent aller Asylverfahren aus. Ein absurder Zustand. Das spüren etwa die Eritreer, bei denen es mit der Priorisierung nicht klappt: Trotz ihrer hervorragenden Chancen müssen sie durchschnittlich 13,6 Monate auf eine Entscheidung warten. Bei Afghanen, die zu immerhin 78,4 Prozent anerkannt werden, dauert das Verfahren im Schnitt 12,1 Monate.

Dabei wäre eine rasche Bearbeitung der Anträge nicht nur im Interesse der Flüchtlinge und zur schnellen Integration im Aufnahmeland, sondern auch rechtlich geboten: Nach der EU-Verfahrensrichtlinie muss ein Asylverfahren im Regelfall nach sechs Monaten abgeschlossen sein; eine Verlängerung um höchstens neun Monate ist nur ausnahmsweise bei einer großen Zahl von Asylsuchenden zulässig. Das wären maximal 15 Monate. Diese Obergrenze wird jetzt schon häufig überschritten. In manchen Einzelfällen dauert es bereits ein Jahr bis zur ersten mündlichen Anhörung, und dann noch einmal ein Jahr bis zur Entscheidung. Spitzenreiter bei Verfahren mit mündlichen Anhörungen sind Menschen aus Nigeria mit Wartezeiten von insgesamt über drei Jahren – im Durchschnitt.

Ende Juni 2015 gab es 57.443 Asylverfahren, die seit mehr als einem Jahr beim BAMF anhängig waren, und 12.039, die sich schon über zwei Jahre hinzogen. Die betroffenen Flüchtlinge leben in Ungewissheit. Sie werden zwar nicht abgeschoben, aber ihr Zugang zu Integrationsmaßnahmen, Bildung, Krankenversorgung, Wohnraum und Arbeitsmöglichkeiten ist erheblich eingeschränkt. Für sie wäre eine unbürokratische »Altfallregelung« in Form einer pauschalen Anerkennung eine wichtige humanitäre Maßnahme – und für das BAMF eine Entlastung, die es angesichts der großen Zahl neuer Antragsteller dringend brauchen könnte. Entsprechende Vorstöße der Linksfraktion werden von der Bundesregierung allerdings bislang nicht aufgegriffen.

Dublin-System ineffektiv

Die wesentlichen Gründe für die überlange Verfahrensdauer sind mehr oder weniger hausgemacht. Sie liegen in der Verantwortung des BAMF und sind überdies Folge der EU-Dublin-Verordnung. Diese besagt, dass ein Asylverfahren in der Regel in dem EU-Staat stattfinden muss, den ein Flüchtling zuerst betreten hat.

Eine Folge davon ist, dass das BAMF häufig zunächst einmal nicht die Fluchtgründe, sondern den Fluchtweg prüft. 35.000 solcher Dublin-Verfahren wurden im letzten Jahr verzeichnet. Ergibt sich, dass ein Flüchtling über einen anderen EU-Staat eingereist ist, wird an diesen ein sogenanntes Übernahmeersuchen gestellt. Im zweiten Quartal des laufenden Jahres gab es insgesamt 11.819 solcher Ersuchen, die meisten an Ungarn, Italien und Bulgarien. In 8.467 Fällen stimmten die anderen EU-Länder auch zu – tatsächlich überstellt wurden letztlich 931 Asylsuchende. Dass es nur wenige sind, hat vielfältige Gründe, etwa Erkrankungen von Flüchtlingen oder humanitäre Gründe im Einzelfall. Auch zahlreiche Gerichte verhindern Überstellungen wegen drohender Menschenrechtsverletzungen oder Mängel in den Asylsystemen in anderen EU-Ländern, insbesondere in Ungarn, Bulgarien und Italien. Aus denselben Gründen werden auch viele Kirchenasyle durch engagierte Gemeinden gewährt, andere Flüchtlinge verstecken sich aus Angst vor einer Abschiebung. Schließlich kommen noch begrenzte Aufnahmekapazitäten in den anderen EU-Ländern und bürokratische Verfahrensprobleme hinzu. Alles zusammengenommen führt dies dazu, dass das Dublin-System, trotz vieler aufwendiger Prüfungen, im Ergebnis kaum zu einer Umverteilung von Asylsuchenden führt.

Wichtig ist aber festzuhalten: Schon die Prüfdauer eines Dublins-Verfahrens beträgt im Schnitt knapp vier Monate. Dabei zeigt das »Nettoergebnis« dieses Systems, dass es sich um ein Nullsummenspiel handelt. Denn Deutschland schiebt nicht nur in andere EU-Staaten ab, es nimmt auch Flüchtlinge, die aus Deutschland in andere Länder gingen, wieder auf. So wurden im zweiten Quartal 931 Menschen ins EU-Ausland geschickt, aber zugleich 689 Flüchtlinge »zurückgenommen« – eine Quote, die in der Vergangenheit ähnlich war. Fazit: Ließe man das ganze Dublin-Prozedere sein, würde sich an den Nettozahlen der Asylanträge fast nichts ändern. Aber es wäre Zeit, Geld und Personal eingespart, das sinnvoller in eine rasche und gründliche inhaltliche Prüfung investiert werden könnte.

Dabei geht die Bundesregierung durchaus »pragmatisch«, um nicht zu sagen opportunistisch mit dem Dublin-Verfahren um: Obwohl es erwiesenermaßen niemandem etwas nützt, pocht Innenminister Thomas de Maizière (CDU) immer wieder auf dessen Einhaltung. Ausgerechnet bei den heftig als »Asylbetrüger« beschimpften Flüchtlingen vom Westbalkan, die fast alle auf dem Landweg kommen, wird das Dublin-Verfahren in der Regel jedoch nicht in die Wege geleitet. Dabei liegt es auf der Hand, dass diese Menschen über Italien, Ungarn oder Österreich kommen. Aber das Bundesamt versucht gar nicht erst, das im einzelnen festzustellen und setzt die Dublin-Verordnung faktisch außer Kraft. Die Devise lautet: Lieber schnell abschieben, als Zeit damit zu vertrödeln, einen Dublin-Fall zu prüfen. Denn eine Überstellung nach Ungarn war schon im zweiten Quartal kaum noch möglich: Von 3.565 Flüchtlingen, die von dort kamen, sind letztlich nur 61 zurückgeschickt worden, angesichts der desolaten Situation in den dortigen Flüchtlingslagern ist jegliche Überstellung wohl bis auf weiteres ausgeschlossen.

Falsche Prognosen

Eine weitere vom BAMF selbst geschaffene Ursache für den Bearbeitungsstau sind die sogenannten Widerrufsverfahren. Deutschland ist das einzige EU-Land, in dem ein Flüchtlingsstatus drei Jahre nach der Anerkennung erneut überprüft wird. Etwa 3.000 diesbezügliche Entscheidungen wurden allein im zweiten Quartal getroffen – in 97,8 Prozent aller Fälle wurde der Schutzstatus beibehalten. Die für die häufig traumatisierten Flüchtlinge psychisch belastenden Vorgänge könnte man sich sparen, was wiederum Kapazitäten für die wichtige Asylprüfung schaffen würde.

Schlichtweg versagt hat die Bundesregierung, was die Prognose der Flüchtlingszahlen angeht. Bis zum August dieses Jahres beruhte diese auf den Zahlen der gestellten Asylanträge – und nicht auf den tatsächlich ins Land gekommenen Schutzsuchenden. Der Unterschied ist nicht nur akademischer Natur: Immer mehr Flüchtlinge verbringen Wochen und Monate in Deutschland, ohne überhaupt einen formellen Asylantrag stellen zu können. In der Praxis erklärt sich das folgendermaßen: Ein Flüchtling äußert zunächst gegenüber einer Behörde – häufig der Bundespolizei – seine Absicht, einen solchen Antrag zu stellen. Dann wird er weitergeleitet und im Easy-System (»Erstverteilung der Asylbegehrenden«) erfasst. Nach einem festgelegten Modus, dem Königsteiner Schlüssel, werden die Flüchtlinge auf die Bundesländer verteilt, wo sie in Erstaufnahmeeinrichtungen den BAMF-Beamten ihre Asylbegehren unterbreiten sollen. Doch häufig werden die Betroffenen wegen begrenzter Kapazitäten der Einrichtungen schnell auf die Kommunen verteilt. Sie müssen dann später vom Bundesamt wieder zur Antragstellung vorgeladen werden. Wie lange die Zeitspanne zwischen der ersten Registrierung und diesem Termin ist, wird nicht erfasst, die Bundesregierung geht aber von mehreren Wochen oder gar Monaten aus.

Genau beziffern lässt sich hingegen die Differenz zwischen der Zahl der Flüchtlinge, die in einem Monat im Easy-System bzw. als Asylantragsteller registriert werden. Im September vorigen Jahres war diese Differenz erstmals fünfstellig. Im Juli dieses Jahres waren ausweislich 82.798 Flüchtlinge eingereist, aber nur 34.384 konnten einen Asylantrag stellen. Mitte 2015 waren bereits mehr als 100.000 Asylsuchende im Land, ohne offiziell als Asylantragsteller zu gelten. Dass die Bundesregierung dennoch bis August nur die formellen Anträge als Grundlage für ihre Prognosen nahm, war daher völlig verantwortungslos, auf einen Schlag verdoppelte sie dann ihre Vorhersage auf bis zu 800.000 Asylsuchende in diesem Jahr. Die Länder und Kommunen, die mit der Versorgung der Flüchtlinge betraut sind, konnten sich auf den tatsächlichen Andrang somit nicht rechtzeitig einstellen, weil ihnen vom BAMF viel niedrigere Zahlen mitgeteilt worden waren. So manche unzumutbare Unterbringung in Zelten und Notunterkünften wäre zu vermeiden gewesen, wenn die Regierung rechtzeitig realistische Einschätzungen getroffen hätte.

Es sind verschiedene Motive für diese grobe Fahrlässigkeit denkbar: Zum einen hatte Berlin ein finanzielles Interesse daran, die Prognosen niedrigzuhalten, solange mit den Ländern über die Kostenverteilung für die Flüchtlingsaufnahme verhandelt wurde. Zum anderen ist auch vorstellbar, dass gezielt Bilder von katastrophalen Aufnahme- und Unterbringungssituationen provoziert werden sollten, um politische Forderungen wie die Einstufung weiterer sicherer Herkunftsländer oder die Wiedereinführung von Grenzkontrollen besser durchsetzen zu können.

Restriktive Maßnahmen

Eine überzeugende Antwort auf die »Flüchtlingskrise« hat die Bundesregierung bislang nicht gefunden. Positiv ist einzig hervorzuheben, dass angesichts der Zustände am Budapester Ostbahnhof kurzzeitig die Grenzen aufgemacht und einige tausend Flüchtlinge nach Deutschland gelassen wurden. Diese – offenbar einmalige Aktion – hat insbesondere in den Reihen des Koalitionspartners CSU massive Kritik an Bundeskanzlerin Angela Merkel ausgelöst. CSU-Chef Horst Seehofer warf ihr vor, eine »nicht mehr zu beherrschende Notlage« provoziert zu haben. Nur wenige Tage nach diesen Attacken verkündete Innenminister de Maizière die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Diese alleine werden die Flüchtlinge jedoch nicht aufhalten, sie verlagern das Problem ihrer Unterbringung lediglich geographisch und zeitlich. In erster Linie sollen die Grenzkontrollen politisch wirken – so hat es auch de Maizière formuliert. Es geht hier um ein Signal an die anderen EU-Staaten, an den rechten Rand der eigenen Partei sowie an die Pegida-Hetzer, die sich nun mit ihren Parolen von einer angeblichen Überforderung Deutschlands bestätigt sehen dürften.

Die jüngsten Beschlüsse bzw. Vorhaben der Koalition zum Umgang mit der Flüchtlingsthematik beinhalten etliches, was mehr von Abwehr als von Willkommenskultur zeugt. Da wird zum einen die Einstufung weiterer Westbalkanstaaten als »sichere Herkunftsländer« in der Annahme gefordert, dies führe zu einer Reduzierung der Flüchtlingszahlen. Tatsächlich sind die Asylanträge von Menschen aus Albanien, Kosovo und Montenegro in diesem Jahr weit stärker angestiegen als jene aus Mazedonien, Serbien und Bosnien-Herzegowina, die bereits im November 2014 als »sicher« definiert wurden.

Die Aufstockung der Bundespolizei um 3.000 Stellen ist ebenfalls eine verfehlte Maßnahme. Diese Behörde hat zwar aufgrund der geltenden Gesetzeslage eine gewisse Mehrarbeit – denn Zehntausende Flüchtlinge kommen aufgrund der Abschottungspolitik der EU ohne Visum, also »illegal«, nach Deutschland. Deshalb werden gegen sie Ermittlungsverfahren eingeleitet, mit Aufnahme der Personalien, mit Fingerabdrücken, Foto, Vernehmungsprotokoll usw. – nur um diese später wieder einzustellen, denn Flüchtlinge dürfen nach der Genfer Flüchtlingskonvention nicht wegen unerlaubter Einreise strafrechtlich verfolgt werden. Sogar der ansonsten nicht sonderlich liberale Bund Deutscher Kriminalbeamter kritisiert mittlerweile diese »widersprüchliche« Regelung, die Polizisten mit völlig sinnloser Arbeit belastet, und forderte im August die »Entkriminalisierung von Flüchtlingen«.

Ein weiterer sinnvoller Schritt wäre die Entkriminalisierung von Fluchthelfern. Mehr als 2.300 mutmaßliche Schleuser wurden laut einem Bericht von Bild am Sonntag vom 13. September in diesem Jahr schon festgenommen. Einige von ihnen mögen Kriminelle sein, die die Not der Flüchtlinge ausnutzen und manchmal sogar deren Leben aufs Spiel setzen – andere haben einfach Mitfahrgelegenheiten nach Deutschland angeboten, ohne die Papiere ihrer Mitreisenden zu kontrollieren. Vor allem aber sind es die EU-Staaten selbst, die das Schleusergeschäft einträglich machen: Sie bestrafen Flug- und Busgesellschaften, wenn diese Passagiere ohne Visum nach Deutschland bringen, und fördern so das illegale Schleusertum.

Schließlich will die Koalition aus Union und SPD in den Erstaufnahmeeinrichtungen den Vorrang von Sachleistungen auf den Bereich der persönlichen Bedürfnisse ausweiten, das sogenannte Taschengeld soll entsprechend gekürzt werden. Der Präsident des Bundessozialgerichts, Peter Masuch, hat diese Absichten scharf kritisiert. Sachleistungen seien allenfalls in Einzelfällen begründet, erklärte er in derWelt vom 11. September. »Der Sozialhilfeempfänger soll ja auch teilhaben an der Gesellschaft, mit der Möglichkeit zur freien Entscheidung«, so Masuch. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2012 angeordnet, das »Taschengeld« zu erhöhen, und ausgeführt, dass dieses dazu dienen soll, für ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sorgen. Migrationspolitische Erwägungen könnten es nicht rechtfertigen, an der Menschenwürde zu sparen, erklärten die Verfassungsrichter damals. Weitergehende Pläne, wie sie in einem Gesetzentwurf der Regierung vorgesehen sind, die Leistungen für »Dublin«-Flüchtlinge pauschal zu streichen und ihnen nur noch eine Fahrkarte sowie Reiseproviant auszuhändigen, sind daher eindeutig verfassungswidrig. Weiterhin plant die Koalition, dass Flüchtlinge künftig bis zu sechs Monate in den Erstaufnahmeeinrichtungen ausharren müssen – Westbalkanflüchtlinge sogar bis zu ihrer Abschiebung. Die Residenzpflicht, die die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen auf ein Bundesland oder gar nur einen Landkreis beschränkt, soll ebenfalls solange gelten. Weitere Forderungen der Bundesregierung erschöpfen sich im Ruf nach einer europäischen Quotenregelung, wie viele Flüchtlinge jedes EU-Land aufzunehmen hat.

Dringende Korrekturen

Die Linksfraktion fordert hingegen, wie auch viele Verbände und Flüchtlingsorganisationen, das »Free-choice-Modell«: Die Menschen sollen selbst entscheiden, in welchem EU-Land sie um Schutz nachsuchen. Nur so können vorhandene Sprachkenntnisse oder bestehende Verwandtschaftsverhältnisse positiv genutzt werden. Statt einer bürokratisch geregelten Verteilung der Betroffenen solle es besser einen gerechten Kostenausgleich auf europäischer Ebene geben. In einem Zehn-Punkte-Programm fordert die Linksfraktion außerdem, der Bund solle grundsätzlich für die Aufnahme der Flüchtlinge finanziell aufkommen, anstatt Ländern und Kommunen lediglich unzureichende Ad-hoc-Zuschüsse zuzugestehen. Ein Flüchtlingsaufnahmegesetz soll bundesweit einheitliche Standards und Verfahren für die Aufnahme schaffen. Die Fraktion stellt zudem ausdrücklich klar, dass auch flüchtende Roma aus den Balkanstaaten Schutz verdienen. Über ein Viertel der Flüchtlinge vom Westbalkan sind Roma, die dort systematischer sozialer Ausgrenzung und rassistisch motivierter Verfolgung ausgesetzt sind. Angesichts des Völkermordes an Roma durch Nazideutschland sei die geplante Einrichtung von Sonderlagern speziell für Balkanflüchtlinge »menschenunwürdig, geschichtsvergessen und verantwortungslos.«