Mit drei Milliarden Euro, einer Beschleunigung des EU-Beitrittsprozesses und der Aussicht auf Visafreiheit für türkische Staatsbürger hat sich die EU die Dienste der Türkei bei der Abwehr von Flüchtlingen erkauft. Die AKP-Regierung verpflichtet sich, ihre Grenzen nach Europa für Flüchtlinge weitgehend dicht zu machen und verstärkt gegen sogenannte Schlepper vorzugehen. Doch das Erdogan-Regime kann kein Partner in der Flüchtlingsfrage sein, seine Politik ist eine wesentliche Ursache für Krieg, Terror und Flucht in der Region!
Durch ihre fortgesetzte Unterstützung für dschihadistische Terrororganisationen in Syrien und den Krieg gegen die Kurden im eigenen Land trägt die AKP-Regierung massiv zur Schaffung von Fluchtursachen bei. Seit dem Sommer wurden in der Türkei bereits über 100 Zivilisten durch Polizeisonderkommandos und staatliche Todesschwadronen ermordet. Über 130 Menschen kamen bei Anschlägen vermeintlicher IS-Terroristen in Suruc und Ankara ums Leben, die weitgehend unter den Augen der Sicherheitskräfte agierten. Einen Tag vor dem Brüsseler EU-Gipfel wurde der Präsident der Anwaltskammer von Diyarbakir, Tahir Elci, von unbekannten auf offener Straße erschossen. Eine Täterschaft staatlicher Kräfte gilt als wahrscheinlich, Regierung, Justiz und AKP-nahe Medien hatten den bekannte Menschenrechtsanwalt zuvor aufgrund seiner kritischen Äußerungen zur kurdischen Frage als vermeintlichen Terrorunterstützer an den Pranger gestellt. Wenige Tage vor Elcis Tod war ein Mordanschlag auf den Vorsitzenden der prokurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtas gescheitert. Während die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel mit der AKP-Regierung verhandelten, wurden im Osten der Türkei erneut kurdische Städte von der Armee abgeriegelt und beschossen. Zehntausende Menschen wurden in den letzten Monaten bereits aus den belagerten und von zum Teil aus Dschihadisten gebildeten Sonderkommandos während wochenlanger Ausgangssperren terrorisierten Städten in die Flucht getrieben. Offen droht die AKP-Regierung zudem mit einem militärischen Eingreifen in Syrien, sollte die Allianz aus kurdischen Volksverteidigungseinheiten und demokratischen syrisch-arabischen Oppositionskräften den IS aus der Grenzstadt Jarablus vertreiben. Auch der Abschuss eines russischen Flugzeuges, das von der Türkei unterstützte terroristische Gruppierungen im Osten Syriens bombardiert hatte, verdeutlicht, dass das Erdogan-Regime zur Deckung seiner terroristischen Aktivitäten sogar einen großen Krieg riskiert. Die Indizien für Waffenlieferungen der AKP-Regierung an Terrororganisationen wie Al Qaida / Al Nusra in Syrien und eine Finanzierung des IS durch Ölschmuggel in die Türkei sind erdrückend. Doch durch den jetzigen Flüchtlingspakt gibt die EU dem Terrorpaten Erdogan grünes Licht, den Krieg in Syrien weiter anzuheizen.
Ob von den zugesagten drei Milliarden Euro viel bei den rund zwei Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei ankommt, ist fraglich. Schon heute werden die Flüchtlinge nach politischer Sympathie und Nähe zur AKP-Regierung unterstützt. Viele kurdische und ezidische Flüchtlinge können dagegen nur auf private Hilfe oder die Solidarität einzelner von prokurdischen Parteien regierter Kommunen bauen. Die meisten Flüchtlinge in der Türkei erhalten weder Sozialhilfe noch eine Arbeitserlaubnis, viele arbeiten schwarz zu Hungerlöhnen. Eine Folge der Verpflichtung der Türkei zur Flüchtlingsabwehr wird die weitere Schließung der Grenze zu Syrien sein – nicht für dschihadistische Kämpfer aber für Flüchtlinge aus Syrien, die bereits jetzt kaum noch eine Möglichkeit haben, das kriegszerrüttete Land zu verlassen.
Die angekündigte Abschaffung des Visumszwangs für türkische Staatsbürger bei EU-Reisen ist natürlich zu begrüßen – aber sie durch die gleichzeitige Grenzschließung für schutzsuchende Menschen zu erkaufen, ist ein überaus schmutziger Deal. Heuchlerisch und verlogen ist die Aussicht einer Beschleunigung des EU-Beitrittsprozesses gerade zum jetzigen Zeitpunkt. Kaum jemand glaubt doch, dass die EU die Türkei wirklich aufnehmen will, auch Bundeskanzlerin Angela Merkel tritt bekanntlich nur für eine privilegierte Partnerschaft ein. Und in ihrem letzten im Oktober erstellten, aber aus Rücksichtnahme auf die türkische Regierungspartei AKP erst nach der Parlamentswahl im November veröffentlichten Fortschrittsbericht wird der Türkei ein vernichtendes Zeugnis ausgestellt. Rückschritte werden bei der Durchsetzung demokratischer Grundrechte und den Aufbau einer unabhängigen Justiz und der Meinungs- und Versammlungsfreiheit beklagt, Einschüchterungen und Druck gegenüber der Presse und einer hohen Anzahl von Angriffen auf Kandidaten während des Wahlkampfes konstatiert und Menschenrechtsverletzungen im Bereich der Frauen-, Kinder- und Minderheitenrechten festgestellt. Konsequent ist es da freilich, wenn die EU jetzt verspricht, im Dezember ausgerechnet das Verhandlungskapitel 17 über Wirtschaft und Finanzen zu eröffnen. Denn der Rollback der AKP-Regierung bei Bürger- und Menschenrechten ist die Begleiterscheinung bei der Durchsetzung einer völlig freien, neoliberalen Marktwirtschaft ohne Rücksichtnahme auf soziale und Arbeiterrechte. In diesem Bereich erweist sich die AKP als Musterschülerin bei der Umsetzung der EU-Forderungen.
Nicht offizieller Bestandteil dieses Teufelspaktes über die Flüchtlingsabwehr– aber stillschweigend vorausgesetzt – ist das Schweigen von Bundesregierung und EU zu den fortgesetzten und immer weiter eskalierenden Menschenrechtsverletzungen unter dem Erdogan-Regime. In einem offenen Brief appellierten die beiden Journalisten Can Dündar und Erdem Gül an Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere EU-Staats- und Regierungschefs, keinen schmutzigen Deal mit der Türkei auf Kosten der Menschenrechte zu schließen. Der Chefredakteur der renommierten liberalen Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar und der Leiter der Hauptstadtredaktion des Blattes Erdem Gül befinden sich seit vergangener Woche im Hochsicherheitsgefängnis Silivri bei Istanbul unter Spionage- und Terrorismusvorwürfen in Untersuchungshaft. Präsident Erdogan hatte die Journalisten persönlich angezeigt, weil sie Beweisfotos für die Lieferung von Waffen und Munition durch den türkischen Geheimdienst an dschihadistische Terroristen wie den Islamischen Staat in Syrien dokumentiert hatten. „Die Meinungs- und Redefreiheit sind ein unverzichtbarer Wert unserer gemeinsamen Zivilisationsgeschichte“, schreiben Dündar und Gül an Merkel. „Wir hoffen …, dass die bestmögliche Lösung für die Flüchtlingskrise Sie nicht daran hindern wird, weiterhin die westlichen Werte wie Bürgerrechte, Meinungs- und Pressefreiheit hoch zu halten und sie zu verteidigen.“ Es darf getrost angenommen werden, dass die Anklagen und Inhaftierungen Erdogan-kritischer Journalisten, Polizeirazzien bei Redaktionen, die gerichtlich angeordnete Übernahme der Treuhänderschaft über oppositionelle Zeitungen und Sender durch AKP-nahe Personen kein Thema beim EU-Türkei-Gipfel waren. Mit ihrem jetzt mit der Erdogan-Türkei geschlossenen Abkommen hat EU die vielzitierten „westlichen Werte“ einmal mehr als bloße konjunkturelle Lippenbekenntnisse entlarvt. Schlimmer noch, EU und Bundesregierung sind einen Teufelspakt mit den Paten des dschihadistischen Terrors eingegangen- auf Kosten von Flüchtlingen und Menschenrechten.