Neonaziverbrechen nehmen zu.
(Kommentar, 12. 1. 2016, junge Welt)
Sämtliche Alarmglocken müssten schrillen: Wie die Bundesregierung dieser Tage auf Anfragen der Oppositionsparteien im Bundestag mitteilte, explodiert die Zahl rechtsextremer Straftaten, und weit mehr Neonazis als bisher sind offenbar untergetaucht, um sich ihrer Verhaftung zu entziehen.
Bis Ende November 2015 hatte das Bundeskriminalamt 12.660 Delikte von Neonazis gezählt. Das sind mehr als im gesamten Vorjahr, wo insgesamt 10.541 »rechtsmotivierte« Straftaten erfasst worden waren. Das sind nur Mindestzahlen. Denn zu Jahresbeginn gibt es stets umfangreiche Nachmeldungen der einzelnen Landespolizeibehörden. Im vergangenen Jahr wurden so aus den 10.500 »vorläufig« gezählten letztlich über 17.000 offiziell erfasste Straftaten. Dem Trend des Jahres 2015 zufolge muss nun von einer Steigerung um 30 Prozent ausgegangen werden. Bei den Gewalttaten beträgt die Zunahme sogar 40 Prozent. Nazis werden krimineller, und sie gehen immer häufiger dazu über, sich nicht aufs Hakenkreuzschmieren zu beschränken, sondern zuzuschlagen und insbesondere gegen Flüchtlinge gewalttätig vorzugehen.
Die Zahl offener Haftbefehle gegen Neonazis geht ebenfalls nach oben. 372 polizeibekannte rechte Straftäter entziehen sich derzeit ihrer Festnahme. Ein Jahr davor waren es noch 253. Den Haftbefehlen liegt ein Mix aus Körperverletzung, Diebstahl, Urkundenfälschung, Volksverhetzung usw. zugrunde, darunter 98 Gewalttaten, von denen nur ein kleiner Teil – aus polizeilicher Sicht – politisch motiviert ist. Ein Großteil dieser offenen Haftbefehle erledigt sich erfahrungsgemäß innerhalb weniger Monate, entweder durch ihre Aufhebung oder durch Festnahme der Gesuchten. Bekannt ist aber auch, dass sich rund 100 Neonazis bereits länger als zwei Jahre ihrer Festnahme entziehen.
Verglichen mit der Gesamtzahl rechtsextremer Straftaten sind das keine dramatisch wirkenden Zahlen. Und dennoch: Dass eine dreistellige Zahl an Neonazis, davon mehrere Dutzend gewaltbereite, sich dauerhaft der Festnahme entzieht, muss alarmieren, weil es ein Indiz ist, das auf einen möglichen rechtsextremen Untergrund hinweist. Das wäre ein Fall für das »Gemeinsame Zentrum« von Polizei und Verfassungsschutz zur Bekämpfung der Naziszene, das vor vier Jahren mit großem Pomp als angebliche Lehre aus dem NSU-Skandal geschaffen wurde. Doch was dort tatsächlich getan wird, bleibt der Öffentlichkeit verborgen. Die Länder und die Bundesregierung geizen mit Informationen. Der Frage, ob ein Teil dieses Milieus ganz bewusst untertaucht und sich ein Vorbild an den NSU-Terroristen nimmt, geht man dort jedenfalls »nur im Einzelfall« nach, heißt es. Die Verharmlosung organisierter rechter Gewalt als »Einzelfälle« kennt man aus der langen Geschichte des Versagens und Vertuschens durch den Inlandsgeheimdienst leider zur Genüge.