Türkisch-deutscher Interessenausgleich.
Gastkommentar von Ulla Jelpke (erschienen am 09.02.2016 in der jungen Welt)
Die deutsche Bundeskanzlerin zeigte sich auf einer Pressekonferenz mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu in Ankara »erschrocken und entsetzt« angesichts zahlreicher aus der syrischen Stadt Aleppo zur türkischen Grenze fliehender Menschen. »Diese Aggression muss so schnell wie möglich eingestellt werden«, forderte sie. Damit meinte Merkel nicht etwa die von der Türkei unterstützten islamistischen Terrororganisationen Al-Nusra und Ahrar Al-Scham, sondern die russische Luftwaffe, die in den vergangenen Tagen verstärkt Angriffe auf die Dschihadisten fliegt. Russland verstoße gegen eine UN-Resolution, die sich gegen Angriffe auf die Zivilbevölkerung richte, so Merkel.
Eine Massenflucht gibt es auch innerhalb der Türkei. Hier fliehen Hunderttausende Einwohner kurdischer Städte vor dem Beschuss von Wohngebieten durch Panzer und Artillerie. Erst am Vorabend des Kanzlerinnenbesuchs begingen Soldaten in der belagerten Stadt Cizre ein Massaker an Dutzenden verwundeten Zivilisten, die in einem Keller Schutz gesucht hatten.
Doch das mörderische Vorgehen der türkischen »Sicherheitskräfte« dürfte ebensowenig Thema des Staatsbesuches sein wie die Anklage gegen die beiden inhaftierten Journalisten Can Dündar und Erdem Gül. Diesen droht lebenslange Haft, weil sie Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an islamistische Terrorgruppen in Syrien dokumentiert hatten. Nicht zuletzt solche Enthüllungen machen deutlich: Der NATO-Staat Türkei kann kein Partner in der Flüchtlingsfrage sein, er ist vielmehr mitverantwortlich für Flucht und Vertreibung in Syrien.
Was de Maizière hier in der Sprache des Diplomaten mit »Interessensausgleich« umschreibt, heißt bei der Mafia schlicht Omertà und bezeichnet die Schweigepflicht von Mitgliedern einer kriminellen Vereinigung. Und kriminell ist es, wenn Menschenrechte – der Flüchtlinge ebenso wie der Kurden – zur Verhandlungsmasse werden.