„Ist dem Herrn Reichskanzler bekannt, dass während des jetzigen Krieges im verbündeten türkischen Reiche die armenische Bevölkerung zu Hunderttausenden aus ihren Wohnsitzen vertrieben und niedergemacht worden ist?“ wollte der Reichstagsabgeordnete der SPD, Karl Liebknecht, am 11. Januar 1916 wissen. Als Liebknecht dann von einer »Ausrottung der türkischen Armenier« sprach, wurde er von anderen Abgeordneten niedergebrüllt, und ihm wurde vom Reichstagspräsidenten das Wort entzogen.Knapp 90 Jahre später sollte der Genozid an bis zu 1,5 Millionen Armeniern und anderen Christen im Osmanischen Reich, an dem das Deutsche Kaiserreich durch sein Kriegsbündnis mit der Türkei eine Mitverantwortung trug, wieder Thema im Plenum des deutschen Parlaments werden. 2001 scheiterte der PDS-Abgeordnete Uwe Hiksch mit der erstmaligen Initiative für einen fraktionsübergreifenden Gruppenantrag zur Anerkennung des Völkermordes und eine öffentliche Entschuldigung des Bundestags »für die Unterstützung und wissentliche Duldung des Genozids durch die damaligen Regierungsbeamten und Offiziere des Deutschen Kaiserreichs«. Kurz vor dem 90. Jahrestag des Genozids einigten sich dann die vier damals im Bundestag vertretenen Fraktionen SPD, CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen auf den am 15. Juni 2005 verabschiedeten gemeinsamen Antrag »Erinnerung und Gedenken an die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern 1915«. Darin wurde zwar das Wort »Völkermord« vermieden, aber die Ereignisse wurden – entsprechend den Kriterien der UN-Konvention – als Genozid beschrieben. Im Begründungsteil hieß es zudem, dass zahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen von einem »Völkermord« sprechen.Zehn Jahre später warnte dann Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) aus Rücksicht auf den NATO-Partner Türkei, man solle für die damaligen Ereignisse nicht den Begriff des Völkermordes verwenden. Während Linksfraktion und Grüne in ihren Anträgen zum 100. Jahrestag den Genozid klar benannten, hieß es daher im Antrag der Regierungskoalition nur ausweichend, »das Schicksal der Armenier steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von denen das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist«. Nachdem jedoch Bundespräsident Joachim Gauck im Berliner Dom von einem Völkermord gesprochen hatte, eröffnete auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) die Plenardebatte am 24. April 2015 mit den Worten: »Das, was im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich stattgefunden hat, war ein Völkermord«. Dem schlossen sich alle Redner von Koalition und Opposition an, so dass die Chance für einen fraktionsübergreifenden Antrag mit eindeutiger Benennung des Genozids bestand. Doch der von der Bundesregierung vorangetriebene Flüchtlingsdeal mit der Türkei kam dazwischen. Aus Sorge, den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu verärgern, legten die Regierungsfraktionen einen bereits mit den Grünen ausgearbeiteten gemeinsamen Antrag auf Eis. Um die Regierung unter Zugzwang zu setzen, brachten die Grünen diesen Antrag dennoch am 25. Februar 2016 unter ihrem Namen in den Bundestag ein. Grünenchef Cem Özdemir zog ihn aufgrund der Zusicherung von Unionsfraktionschef Volker Kauder, nach einem anstehenden EU-Türkei-Gipfel einen neuen Anlauf für einen gemeinsamen Antrag zu unternehmen, vorerst wieder zurück.
Dieser Antrag von CDU/CSU, SPD und Grünen steht am heutigen Donnerstag trotz heftiger Proteste aus Ankara und von türkisch-nationalistischen Lobbyverbänden zur Abstimmung im Bundestag. Schon der Titel »Erinnerung und Gedenken an den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten in den Jahren 1915 und 1916« nimmt endlich eine eindeutige Bewertung vor. Um hier nach 101 Jahren ein klares Signal zu senden, wird auch die Linksfraktion, die bei der Einbringung dieses Antrages nicht erwünscht war, zustimmen. Allerdings wird in dem überfraktionellen Antrag die »unrühmliche Rolle« des Deutschen Reiches als militärischer Hauptverbündeter der Türkei auf bloße unterlassene Hilfeleistung gegenüber den Armeniern reduziert. Die Linksfraktion fordert dagegen in ihrem Antrag den Bundestag auf, »die Armenier für die Beihilfe des Deutschen Reichs zum Völkermord um Entschuldigung« zu bitten.
erschien in junge Welt vom 2.6.16