Die türkische Armee und unter der Fahne der Freien Syrischen Armee (FSA) agierende Söldnerverbände sind am Montag bei Jarablus in den Norden Syriens einmarschiert. Nach Angaben der türkischen Regierung dient die Operation „Schild des Euphrat“ dazu, terroristische Strukturen im Grenzgebiet zur Türkei zu zerschlagen. Hatte es anfänglich noch geheißen, der Einmarsch richtete sich gegen den Islamischen Staat (IS), so machte türkische Regierungspolitiker schnell deutlich, dass das Hauptziel die syrischen Kurden sind. Nach der Einnahme der westlich des Euphrat gelegenen Stadt Manbij in monatelangen, verlustreichen Kämpfen durch die Syrisch-Demokratischen Kräfte (SDF) befürchtete Ankara ein weiteres Vorrücken dieser mehrheitlich aus den kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG bestehenden, aber auch arabische, assyrische und turkmenische Verbände umfassenden Rebellenallianz in das bislang vom IS gehaltene Gebiet. Ein kurdischer Korridor, der die Selbstverwaltungskantone Kobani und Afrin miteinander verbinde, oder gar ein (von den syrischen Kurden gar nicht angestrebter) kurdischer Staat seien für Ankara inakzeptabel. Ziel des Einmarsches ist es so, die noch vom IS besetzte Region zwischen Jarablus und Mare unter die Kontrolle der türkischen Armee und Söldner zu bekommen, um so einen dauerhaften Keil zwischen die Selbstverwaltungskantone von Rojava zu treiben und die SDF zu stoppen.
Für den Einmarsch in Syrien hat sich unter dem Dach der FSA eine Koalition mehrheitlich radikal-dschihadistischer Kräfte zusammengefunden. Was von manchen Medien weiterhin als „gemäßigte Rebellen“ bezeichnet wird, ist eine Söldnertruppe, die sich nur graduell vom IS unterscheidet. Mit dabei ist die kürzlich umbenannte, aber nicht von ihrer mörderischen Ideologie abgerückte Al Nusra Front sowie jene Islamisteneinheit, die erst vor wenigen Wochen einen 12-jährigen Jungen in Aleppo vor laufender Kamera köpfte.
Dass der Einmarsch nahezu kampflos ablief, zeigt auch die Tatsache, dass die Angreifer lediglich einen eigenen Gefallenen einräumten. Dagegen wurden fast 50 Zivilisten bei Luftangriffen vornehmlich auf kurdische Stadtviertel von Jarablus getötet. Türkische Medien hatten berichtet, dass sich IS-Kämpfer aus Jarablus bereits in der vergangenen Woche über die türkische Grenze abgesetzt hatten. Anders als sonst üblich scheint der IS auch keine Sprengfallen und Minen in Jarablus hinterlassen zu haben, Bilder zeigen unbesorgt durch die Stadt schlendernde FSA-Kämpfer.
Vergleicht man die Einnahme von Jarablus einmal mit den mehr als 70tägigen schweren Kämpfen der SDF zur Befreiung von Manbij, die mehreren Hundert SDF-Kämpfern das Leben kosteten, dann wird deutlich, dass die türkische Armee und ihre dschihadistischen Söldner in eine vom IS bereits geräumte Stadt einzogen. Was hier stattgefunden hat, war ein einfacher Wachwechsel. Der bislang von der Türkei unterstützte, IS wurde abgezogen und durch besser zu kontrollierende Söldner Al Qaida-naher Verbände ersetzt.
Drei Jahre lang konnte die Türkei gut mit dem IS-Kalifat als Nachbarn leben. Über den Grenzübergang Karkamis-Jarablus wurde ein reger Grenzhandel abgewickelt, der türkische Geheimdienst lieferte Waffen und ließ Rekruten aus aller Welt, die sich dem „Dschihad“ in Syrien anschließen wollten, passieren. Verwundete IS-Kämpfer konnten sich in der Türkei in Krankenhäusern behandeln lassen.
Der von Ankara nachweislich geförderte IS dient somit heute nur als Vorwand für den schon lange angedrohten türkischen Einmarsch in Syrien. Bereits vor zwei Jahren wurde ein Abhörprotokoll bekannt, in dem Geheimdienstchef Hakan Fidan in einer Sitzung im Außenministerium erklärte, mit seinen Agenten leicht einen Angriffsgrund durch dem IS angehängten Beschuss türkischen Gebietes von Syrien aus liefern zu können. Dem jetzigen Einmarsch ging ein solcher Beschuss türkischen Gebietes aus Syrien sowie der dem IS angerechnete Anschlag auf eine kurdische Hochzeitsfeier in Gaziantep mit über 50 Todesopfern voraus. Wie schon im Juli letzten Jahres der dem IS angerechnete Anschlag auf junge Sozialisten in Suruc den Startschuss für einen türkischen „Krieg gegen den Terror“ lieferte, der sich nur scheinbar gegen den IS, in Wahrheit aber gegen die PKK richtete, so lieferte jetzt der Anschlag in Gaziantep den Vorwand für den Angriff auf Syrien und Rojava.
Die USA, die bislang die SDF im Kampf gegen den IS aus der Luft und mit einigen Spezialeinheiten am Boden unterstützt haben, stellten sich völlig hinter den von der US-Luftwaffe mitgetragenen türkischen Einmarsch in Syrien. US-Vizepräsident Joe Biden, der sich zum Zeitpunkt des Angriffs zu Gesprächen in Ankara aufhielt, forderte die YPG im Sinne Ankaras auf, sich wieder auf die Ostseite des Euphrat zurückzuziehen. Andernfalls würden die USA die SDF nicht mehr weiter unterstützten. Von einem Verrat der USA an den Kurden können angesichts solcher Kolonialherrensprüche hier nur diejenigen sprechen, die ernstlich geglaubt haben, Washington unterstütze die Kurden, um Syrien die Demokratie zu bringen. Nun wird deutlich, was den führenden Kräften unter den syrischen Kurden schon lange bewusst war: die USA benutzen in Ermangelung der lange gesuchten „gemäßigten Rebellen“ YPG und SDF als ihre Bodentruppen. So will die US-Regierung den lange mit Blick auf den angestrebten Sturz des syrischen Präsidenten Assad tolerierten, dann aber aus dem Ruder gelaufenen und zur Gefahr für den Westen gewordenen IS ohne Risiko eines eigenen Bodentruppeneinsatzes zurückzudrängen. Doch der strategische Partner Washingtons bleibt trotz aller temporären und taktischen Differenzen aufgrund von Erdogans Alleingängen der NATO-Staat Türkei. An den führenden Strategen der US-Außenpolitik Henry Kissinger sei hier erinnert, der einmal ehrlich eingestand, die USA hätten keine Freunde sondern lediglich Interessen. Entsprechend muss auch die russische Politik gewertet werden. Zwar setzte sich Russland für eine Beteiligung der Kurden an den Syrien-Friedensgesprächen ein und erlaubte die Eröffnung einer Rojava-Vertretung in Moskau. Doch die russischen Reaktionen gegen ein Einmarsch der Türkei, mit deren Führung längst wieder Einvernehmen herrscht, beschränkten sich auf das Äußern von „Besorgnis“ über die Lage im Grenzgebiet. Dass aber die Türkei ohne eine Rücksprache mit Russland, das immerhin seit Herbst letzten Jahres offen als militärische Schutzmacht Syriens agiert, in das Nachbarland einmarschiert, ist kaum glaubhaft. Wie kaum anders zu erwarten, äußerte auch die Bundesregierung Verständnis. Wenn die türkische Regierung der Meinung sei, die YPG seien nichts anderes, als die auch von der Bundesregierung als terroristisch eingestufte PKK, dann könne man ihr ein militärisches Vorgehen gegen die kurdischen Milizen in Syrien nicht verdenken. Ansonsten begrüßte die Bundesregierung das Vorgehen der Türkei gegen den IS. Es ist schon absurd: Noch vor einer Woche hatte die Bundesregierung in einem eigentlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Dokument festgestellt, dass die Türkei unter Erdogan zur zentralen Aktionsplattform für islamistische einschließlich terroristische Gruppierungen geworden ist. Doch jetzt traut die Bundesregierung eben jenem Förderer islamistisch-terroristischer Gruppierungen ein ernsthaftes Vorgehen gegen den islamistischen Terrorismus zu. Im Übrigen haben diese Bundesregierung und ihre Vorgängerinnen mit ihren Waffenlieferungen an die Türkei maßgeblich dazu beigetragen, dass der NATO-Partner überhaupt erst die Fähigkeit zum Krieg gegen Nachbarländer hat. So kommen bei der Militäroperation gegen Syrien unter anderem Leopard-Kampfpanzer aus deutscher Lieferung zum Einsatz. Schließlich musste Erdogan das Schweigen der Bundesregierung zu seinem Krieg gegen die Kurden im eigenen Land als Zustimmung interpretieren, nun auch gegen die Kurden in Syrien ohne Widerspruch aus Berlin Krieg führen zu können.
In Nordsyrien – oder Rojava, wie die Kurden die Region nennen – wurde in den letzten vier Jahren im Windschatten des Krieges zwischen der Assad-Regierung und der von radikal-religiösen und nationalistischen Kräften dominierten und von der Türkei und den Golfstaaten abhängigen syrischen Opposition ein einzigartiges, auf direkter Demokratie, Gleichberechtigung der Ethnien und Glaubensgemeinschaften und Geschlechtergerechtigkeit beruhendes System der Selbstverwaltung aufgebaut. Selbst das sonst keineswegs dem kurdischen Freiheitskampf oder gar linken Ideen zugetane Boulevardblatt BZ fragte just am Tag des türkischen Einmarsches in Syrien: „Rojava – eine Blaupause für Frieden in Nahost?“ – eine Frage, die das Springerblatt unter Verweis auf die führende Rolle der Frauen innerhalb der Selbstverwaltung und der Einbindung religiöser Minderheiten wie der Christen mit Ja beantwortete. Der türkische Angriff auf eben dieses gelobte Modell, das sich selbst als Keimzelle für ein zukünftiges föderales und demokratisches Syrien versteht, war der BZ dann allerdings nur noch drei Zeilen wert. Schließlich ist man im Hause Springer ja zur unbedingten atlantischen Treue mit den USA verpflichtet, die wiederum hinter dem türkischen Angriff stehen.
Rojava ist jetzt akut bedroht durch den Überfall der türkischen Armee und ihrer dschihadistischen Kopfabschneiderbanden.
Wenn es den Invasoren gelingt, sich im Norden Syriens festzusetzen, dann bedeute dies eine Fortsetzung der dschihadistischen Schreckensherrschaft des IS unter neuem Namen.
Zudem wäre dann die weitere Ausbreitung der demokratischen Selbstverwaltung blockiert. Ein Angriff von Dschihadisten auf den schon jetzt umzingelten Kanton Afrin wäre dann nicht mehr auszuschließen.
Rojava braucht heute mehr denn je unsere Solidarität!
So, wie vor zwei Jahren Millionen Menschen in aller Welt für Kobani auf die Straße gingen, müssen wir heute wieder auf die Straße gehen:
Gegen die Invasion Ankaras und seiner mörderischen Söldner!
Gegen die unheilige internationale antikurdische Allianz von Ankara über Washington bis Berlin!
Für die Syrisch-Demokratischen Kräfte und die Rojava-Selbstverwaltung als Hoffnungsträger einer demokratischen Friedenslösung in Syrien!