Artikel: Jagd auf Gülen-Anhänger

Bundesregierung befürchtet Übergriffe von Anhängern des türkischen Präsidenten auf oppositionelle Gemeinde in Deutschland

Die Bundesregierung prognostiziert, dass Einrichtungen der sogenannten Gülen-Bewegung in Deutschland verstärkt zum Ziel gewalttätiger Aktionen von Anhängern des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan werden könnten. Das wird deutlich in der Antwort auf eine kleine Anfrage der Linksfraktion zur »Sicherheitslage für Erdogan-kritische Türken in Deutschland«. Die türkische Regierung sieht in dem im US-Exil lebenden Prediger Fethullah Gülen, der bis zum Zerwürfnis vor drei Jahren der engste Verbündete Erdogans bei der Verfolgung säkularer Gegner war, den Drahtzieher des gescheiterten Militärputsches am 15. Juli in der Türkei. Zehntausende mutmaßliche Gülen-Anhänger, aber auch zahlreiche säkulare und linke Oppositionelle wurden seitdem in der Türkei aus dem öffentlichen Dienst entlassen, festgenommen oder verhaftet.

Die politischen Auseinandersetzungen in der Türkei haben nach Ansicht der Bundesregierung auch in Deutschland zu einer »verstärkten Emotionalisierung« gegnerischer politischer Lager geführt. Lag der Schwerpunkt solcher Auseinandersetzungen lange zwischen einem protürkischen und einem prokurdischen Lager, so gerieten nach Verabschiedung der Bundestagsresolution zum Genozid an den Armeniern im Juni 2016 verstärkt hier lebende türkische Oppositionelle ins Fadenkreuz der Erdogan-Anhänger und nach dem Putschversuch insbesondere die Gülenisten.

Innerhalb von sechs Wochen nach dem Putschversuch wurden Polizeibehörden mehr als 70 Straftaten von Erdogan-Anhängern gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner des türkischen Präsidenten in Deutschland gemeldet. Diese Straftaten, unter denen sich 22 Fälle von Körperverletzung, Bedrohung oder Nötigung gegen Personen sowie 22 Sachbeschädigungen finden, richteten sich in mehr als 50 Fällen überwiegend gegen Gülen-Anhänger oder Gülen-nahe Einrichtungen. Bei den Gewaltdelikten handelt es sich nach Ansicht der Bundesregierung »bislang um Einzelfälle«.

Nach Erkenntnissen des Bundeskriminalamtes werden Türkeistämmige in Deutschland in sozialen Netzwerken dazu aufgerufen, vermeintliche Unterstützer terroristischer Organisationen sowie Einrichtungen, Anhänger und Spendensammler der Gülen-Bewegung den Kontaktstellen des türkischen Präsidialamtes und der Cyberabwehr-Abteilung der Generalsicherheitsdirektion zu melden.

In Deutschland werden der schattenhaften und intransparenten Gülen-Bewegung unter anderem 24 Privatgymnasien, 150 Nachhilfeeinrichtungen, ein Unternehmerverband, das Medienunternehmen World Media AG in Offenbach mit der Europaausgabe der in der Türkei inzwischen geschlossenen TageszeitungZaman sowie eine Reihe von sogenannten Dialogvereinen für Lobbyarbeit zugerechnet. Die Stiftung Dialog und Bildung, die als offizielles Sprachrohr der sich Hizmet-Bewegung (Dienst-Bewegung) nennenden Gülen-Gemeinde firmiert, geht von bis zu 150.000 Anhängern des Predigers in Deutschland aus.

Dass Erdogans Intimfeind Gülen »kein Lämmchen ist«, erkannte am vergangenen Wochenende selbst Bild. Aussteiger berichteten über sektenhaften Strukturen in den Lichthäusern – den als Kaderschmieden dienenden Wohnheimen der Bewegung für Schüler und Studenten. Auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die noch vor vier Jahren Gülen in einem ganzseitigen Exklusivinterview als »Erneuerer des Islam« präsentierte, kamen kürzlich Aussteiger zu Wort. Sie berichteten vom konspirativem Verhalten der unter Codenamen auftretenden Führungsleute und einer strikten Hierarchie, in der die Abis und Ablas (große Brüder und Schwestern) das Sagen hatten. Transparente und demokratische Vereinsstrukturen gebe es in der Gülen-Bewegung nicht. Einzelne Gemeindemitglieder seien angewiesen worden, bei CDU, SPD oder Grünen Mitglied zu werden. Der Gülen-Vertraute Abdullah Aymaz sei der »oberste Imam für Europa«. Gegen den Aufsichtsratschef der World Media AG Aymaz hatte die türkische Justiz laut einem Bericht von tagesschau.de bereits 2015 einen Haftbefehl wegen Mitgliedschaft in der Führungsriege der »Fethullah-Terrororganisation« (Fetö) erlassen. Dass Aymaz ausgeliefert werden könnte, erscheint indessen unwahrscheinlich. Denn die Bundesregierung betonte mehrfach, dass sie die Gülen-Bewegung nicht für terroristisch halte und diese auch kein Objekt der Beobachtung durch den Verfassungsschutz sei.

erschien in junge Welt vom  7. September 2016