Reality-TV in Zeiten des Ausnahmezustands
Ein Kampfpilot der Bundeswehr schießt ein entführtes Passagierflugzeug mit 164 Passagieren ab, um zu verhindern, dass Terroristen die Maschine in ein volles Fußballstadion stürzen und dort Tausende Menschen in den Tod reißen. Soll der Kampfpilot, der gegen die ausdrückliche Weisung des Verteidigungsministeriums gehandelt hat, nun wegen Mordes verurteilt werden? Darüber sollen die Fernsehzuschauer im Anschluss an einen TV-Krimi „Terror – Ihr Urteil“ mit dieser Handlung, der nach einem Buch von Ferdinand von Schirach konzipiert wurde, per Telefon abstimmen.
Von Schirachs Bücher zu Schuld und Sühne etc. sind dafür bekannt, komplizierte juristische Thematiken auch für interessierte Laien auf populäre, zum Mit- und Nachdenken anregende Weise zu präsentieren. Doch eine solche tiefschürfende Debatte über Widersprüche und Grenzen von Recht und Ethik haben wir im Falle des Films „Terror“ gerade nicht zu erwarten. Hier geht es vielmehr um eine regelrechte Kampagne zur geistigen Mobilmachung der Öffentlichkeit für den Ausnahmezustand. Dies wird schon daran deutlich, dass das Boulevardblatt BZ den im ersten deutschen Fernsehen gezeigten Film reißerisch auf vier Sonderseiten bewirbt.
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in den USA, bei denen entführte Passagierflugzeuge als tödliche Waffen in Wolkenkratzer und das Pentagon gesteuert wurden, hatte Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) ein neues Luftsicherheitsgesetz durchgesetzt. Dieses sah vor, dass im Notfall auch ein vollbesetztes Passagierflugzeug von der Bundeswehr abgeschossen werden darf, wenn Terroristen damit drohen, dieses als Waffe einzusetzen. Knapp ein Jahr nach Inkrafttreten stellte das Bundesverfassungsgericht im Februar 2006 eindeutig fest, dass dieses Gesetz „mit den Grundgesetz unvereinbar und nichtig“ sei, da den unschuldigen Passagieren in einem abzuschießenden Flugzeug „der Wert abgesprochen“ werde, der „dem Menschen um seiner selbst willen zukommt“. Konkret verstieß das Luftsicherheitsgesetz damit gegen die vom Grundgesetz geschützte Unantastbarkeit der Menschenwürde. Seitdem fehlte es nicht an Initiativen, doch durch die Hintertür durch das Grundgesetz bislang verbotene Bundeswehreinsätze im Inland zur Terrorbekämpfung durchzusetzen.
Die mit dem Film „Terror – Ihr Urteil“ verbundene Methodik der geistigen Mobilmachung für den Ausnahmezustand erinnert an die öffentliche Diskussion um die Legitimität von Folter im Falle Daschner. Zur Erinnerung: der damalige Frankfurter Vizepolizeichef Wolfgang Daschner hatte einen Untergebenen angewiesen, dem Entführer des Bankierssohnes Jakob von Metzler Folter anzudrohen, um den Aufenthaltsort des Kindes zu erfahren. Der Entführer Magnus Gäfgen gestand zwar, doch der entführte Junge war zu dem Zeitpunkt bereits tot. Daschner wurde im Dezember 2004 wegen Nötigung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen verurteilt. In der Öffentlichkeit führte der Fall zu einer Debatte über die grundsätzliche Zulässigkeit von Folter zur Aussageerzwingung bei Strafverfahren. Obwohl in Deutschland aufgrund der grundgesetzlich geschützten Würde des Menschen ein absolutes Folterverbot besteht, plädierten damals bekannte Journalisten, Wissenschaftler und Politiker für die Androhung von Folter, wenn dadurch ein Menschenleben gerettet werden könnte. Sie rührten damit zu einem Zeitpunkt, an dem der US-Geheimdienst auch über deutsche Flughäfen gefangene Terrorverdächtige in geheime Foltergefängnisse transportierte, an einem Tabu. Mit dem Verweis auf das Leben eines unschuldigen Kindes, sollte in der Öffentlichkeit die Bereitschaft für „ein bisschen Folter darf schon sein“ geschaffen werden.
Ob Lockerung des Folter-Verbots oder Werbung für den Bundeswehreinsatz im Inland mit Lizenz zum Töten von Unschuldigen – die Methodik ist die gleiche im Falle Daschner ebenso wie beim Film „Terror – Ihr Urteil“: der Öffentlichkeit werden Einzel-, Ausnahme- und Extremfälle als das scheinbar Allgemeine präsentiert, um damit Gesetzes- und Verfassungsänderungen sowie Grundrechtsabbau zu rechtfertigen.
Doch der Rechtsstaat ist keine römische Kampfarena, in der die Zuschauer mit Handzeichen über das Schicksal von Gladiatoren abstimmen können. Die grundgesetzlich geschützte Menschenwürde kann kein Objekt der Abstimmung sein – auch nicht in einem fiktiven Prozess im Reality-TV.