Artikel: „Wir sind selbst zu Flüchtlingen geworden“

Ein Gespräch mit Cudî B. und Bagok R.

 

Cudî B. und Bagok R. stammen aus der kurdischen Stadt Nusaybin an der türkisch-syrischen Grenze, wo sie sich in der links-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) engagiert hatten. Im November kamen sie als Flüchtlinge nach Berlin. Ulla Jelpke und Sukriye Dogan sprachen mit ihnen über die Situation in Kurdistan und ihre Flucht

Warum sind Sie nach Deutschland gekommen?

Wir sind nicht freiwillig oder aus einer wirtschaftlichen Not gekommen. Wir sind Flüchtlinge. Wir mussten untertauchen, ansonsten wären wir verhaftet worden. An den drei Zufahrtsstraßen nach Nusaybin gibt es Kontrollpunkte. Dort werden Personen festgenommen, deren Namen auf einer schwarzen Liste stehen. Freunde hatten uns gewarnt, dass wir auch auf der Liste stehen. Von Rechtsanwälten, die Zugang zu Polizeiprotokollen haben, erfuhren wir, dass ein bereits Festgenommener unter Folter unsere Namen genannt hat. Einige unserer Freunde wurden schon verschleppt. Wir wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist, denn es ist lebensgefährlich, sich bei den Behörden nach ihrem Verbleib zu erkundigen. Es ist schlimmer als in den 90er Jahren, als sehr viele Menschen verschleppt und ermordet wurden.

Im Gegensatz zu bekannten Politikern lässt man einfache HDP-Mitglieder und Aktivisten wie uns kurzerhand verschwinden. Es besteht die Gefahr, exekutiert zu werden, da Ausnahmezustand herrscht und alle Gesetze ignoriert werden. Das Militär, paramilitärische islamistische Gruppen und die Polizei verhaften, foltern und morden willkürlich. Anschließend heißt es dann von Behördenseite, es sei ein weiterer „Terrorist“ getötet worden. Da wir wussten, dass wir ohne Verfahren, ohne rechtlichen Beistand bereits verurteilt wurden, blieb uns nur noch die Flucht, um unser Leben zu retten.

Auf welchen Wegen sind Sie nach Deutschland gekommen?

Zuerst sind wir in der Türkei untergetaucht. Nachdem wir eingesehen hatten, dass wir das Land verlassen müssen, wurde für uns ein Schlepper gefunden. Zusammen mussten wir beide 15.000 Euro zahlen. In einem Lastwagen wurden wir zuerst nach Bulgarien gebracht, dort stiegen wir in ein anderes Fahrzeug um. Mit diesem kamen wir direkt nach Deutschland.

Warum drohte Ihnen eine Festnahme?

Als Kurden werden wir als Terroristen betrachtet und als Mitglieder der legal ins Parlament gewählten Partei HDP werden wir von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, seiner Partei AKP und den Sicherheitskräften verfolgt. Die Repressionen begannen im Sommer 2015 nach den Wahlen. Nachdem der Traum Erdogan, ein Präsidialsystem mit ihm als alleinigen Herrscher einzuführen, durch den Wahlerfolg der HDP vorerst gescheitert war, kündigte er den kurdischen Friedensprozess auf und erklärte, dass es nur noch eine militärische Lösung gäbe. Die Bevölkerung von Nusaybin hatte zu über 90 % HDP gewählt. Alle nicht-AKP-Wähler werden von der AKP als Feinde und Terroristen betrachtet. Zuerst wurden die Friedhöfe der Sehid, der gefallenen Freiheitskämpfer, zerstört, zerbombt. Schon im Juli 2015 wurden Ausgangssperren verkündet. Menschen, die sich auf die Straße wagten wurden von Scharfschützen beschossen. Demonstrationen wurden mit Militärgewalt aufgelöst. Die Verletzten konnten nicht gerettet werden, der Zugang zu den Krankenhäusern wurde den Verletzten systematisch verweigert. Drei Tage lang konnte ein Toter auf der Straße nicht geborgen werden, da die Scharfschützen auf alles, was sich bewegte, schossen.

Jugendliche haben dann Barrikaden gebaut, damit die Panzer und Militärfahrzeuge nicht in die Gassen gelangen konnten und die Häuser nicht willkürlich bombardieren konnten. Doch im Frühjahr dieses Jahres, nachdem Erdogan „Säuberungen“ und als „Endlösung“ verkündet hatte, wurde Nusaybin aus der Luft bombardiert. Die Bevölkerung floh. Nusaybin hatte 2014 Flüchtlinge aus Syrien und Jesiden aus dem Irak auf genommen. Die Camps, in denen die Flüchtlinge lebten und von der Bevölkerung versorgt wurden, wurden geräumt, einige nach Gaziantep evakuiert. Andere sind irgendwohin geflohen. Die ehemaligen Flüchtlingshelfer sind nun zum größten Teil selbst Flüchtlinge – von 150.000 Einwohnern Nusaybins wurden 75.000 vertrieben. Nusaybin ist ein Beispiel für die Verfolgung von Kurden, Armeniern, Aramäern, Aleviten, Jesiden und die Zerstörung ihrer Kulturen in Nordkurdistan, ihrer Städte, Dörfer und sogar Wälder.

Wie ist die Situation in Nusaybin heute?

Wir können über die momentane Situation nur aus den Nachrichten und Berichten von Freunden etwas sagen. Wir selbst sind ja seit fast einem halben Jahr untergetaucht. Sieben Stadtteile wurden seitdem vollkommen geräumt und teilweise mit Bulldozern niedergewalzt. Aus der ebenen Fläche ragt nur noch ein Minarett auf. Man kann das auch auf Bildern im Internet sehen. Mein Freund kann nicht mehr sagen, wo sein Haus stand. Dort, wo früher das Leben in der Stadt pulsierte, wo Bazare und Cafes waren, wo die Straße zur syrischen Grenze nach Qamishlo verlief, ist heute eine plane Steinwüste. Es sieht dort heute nicht anders aus, als in Kobanê und Aleppo in Syrien.

In den letzten Monaten wurden Bürgermeister und Bürgermeisterinnen abgesetzt, eingesperrt und durch Gouverneure als Zwangsverwalter ersetzt, HDP-Abgeordnete und Rechtsanwälte inhaftiert, alle Vereine verboten, die Hälfte der Schulen geschlossen, jede Stimme des Widerstands wird erstickt, jede Frage verboten. Das Bildungssystem ist zusammengebrochen, die Lehrer wurden entlassen, eingesperrt, weil sie Mitglieder einer Lehrergewerkschaft waren. Die Schulen sind überfüllt, wenn überhaupt Unterricht stattfindet. Strom- und Wasserversorgung werden willkürlich gesperrt.

Die gesamte Zivilgesellschaft – Kultur-, Kinder-, Frauen-, Flüchtlingsvereine etc. – wurden mit der Begründung verfolgt und verboten, sie unterstützten terroristische Vereinigungen. Selbst spielende Kindergruppen auf der Straße werden von Militär und Polizei aufgelöst, da es sich um nicht genehmigte Versammlungen handele. Unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung wird jedes Recht verletzt und jedes Unrecht gerechtfertigt.

Immer wieder wird berichtet, dass gemeinsam mit den türkischen Truppen auch IS-Verbände im Einsatz sind

Viele Leute berichten, dass die „Soldaten“ so aussehen wie IS-Kämpfer. Sie sprechen Arabisch. Sie ähneln in keiner Weise den typischen türkischen Sicherheitsskräfte. Im Internet kann man Bilder von IS-Parolen neben rassistischen türkischen Schmierereien an den zerstörten Häusern in den kurdischen Städten der Türkei sehen.

Und wie geht es für Sie jetzt weiter in Deutschland?

Wir wollen vorerst hier bleiben, weil wir nicht wissen, wohin wir gehen können. Wir hoffen auf Frieden und Demokratie in der Türkei, so dass wir zu unserer Familie, zu unseren Freunden in der Heimat zurückkehren können. Doch seit Monaten konnten wir keinen Kontakt aufnehmen, um unsere Angehörigen nicht noch mehr zu gefährden. Bagok ist vor kurzem Vater geworden, sein Kind, das jetzt neun Monate alt ist, hat er nur vier Wochen lang sehen können. Ich habe vier Kinder – sie müssen jetzt ohne Vater aufwachsen. Nachdem wir weg waren, wurden unsere Familien von den Behörden laufend schikaniert. Ein Bruder von Bagok wurde mehrfach verhaftet und schwer gefoltert, um seinen Aufenthaltsort zu erfahren. Mein 14jähriger Sohn besucht ein Gymnasium in einer 100 km von Nusaybin entfernten Stadt. Er wurde von Sicherheitskräften in der Schule unter Druck gesetzt, befragt nach meinem Aufenthaltsort. Mein Sohn musste mich verleugnen und sagte, dass ich nicht sein Vater sei. Wir fürchten um unsere Familien. Wir müssen lernen, mit dieser Angst zu leben.