Rede: Familiennachzug für alle Flüchtlinge sofort gewähren

Rede zu TOP 6 der 199. Sitzung des 18. Deutschen Bundestages am Donnerstag, dem 10. November 2016

Erste Beratung des von den Abgeordneten Luise Amtsberg, Volker Beck (Köln), Dr. Franziska Brantner, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes (Familiennachzug für subsidiär Geschützte) Drucksache 18/10044

Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE. Familiennachzug zu anerkannten Flüchtlingen uneingeschränkt gewährleisten Drucksache 18/10243

 

Ulla Jelpke (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Kollegin Woltmann, die Bilder aus Syrien, aus Aleppo, aus den Kriegsgebieten, die wir tagtäglich sehen, zeigen, dass die Menschen, die dort fliehen, wahrscheinlich Jahre nicht zurückkehren können, weil das Land dermaßen zerstört ist. Schon deswegen ist der subsidiäre Schutz im Grunde eine einzige Grundgesetzverletzung.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Barbara Woltmann (CDU/CSU): Das ist es nicht!)

Es ist ein Grundrecht, das wir haben. Es ist eine schlimme Menschenrechtsverletzung, die Sie hier gerechtfertigt haben. Deswegen möchte ich hier noch einmal deutlich sagen: Der Gesetzentwurf der Grünen und der Antrag der Linken, die heute hier vorliegen, wollen genau diese Menschenrechtsverletzungen ‑ den um zwei Jahre verzögerten Familiennachzug oder lange Wartezeiten für anerkannte Flüchtlinge ‑ rückgängig machen und korrigieren. Wir müssen wieder zu Grundrechten kommen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will das auch erklären. Es geht hier um Folgendes: Für Flüchtlinge, die nur einen subsidiären Schutz haben ‑ einen sogenannten vorübergehenden Schutz, auf ein Jahr befristet ‑, wird gemäß Asylpaket II der Familiennachzug für zwei Jahre ausgesetzt. Mit dem Paket haben die Bundesregierung und auch diejenigen, die es hier im Bundestag beschlossen haben, bewirkt, dass Familien auseinandergerissen werden und menschliche Tragödien verschärft werden. Das ist aus unserer Sicht einfach unerträglich und Ausdruck einer verachtenden Menschenrechtspolitik.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Luise Amtsberg (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Ich möchte Ihnen hier einen praktischen Fall vorstellen. Asma, eine Mutter von vier Kindern aus Syrien, musste mit ansehen, wie ihr Mann vom sogenannten „Islamischen Staat“ ermordet wurde. Auf ihrer Flucht nach Deutschland wird ihre Familie zerrissen: Sie ist mit zwei Kindern hier, und zwei ihrer Töchter sind in der Türkei in einem Flüchtlingslager; sie sind 15 und 16 Jahre alt. Asma hat hier in Deutschland nur den subsidiären Schutz erhalten, muss also jedes Jahr erneut nachsuchen, und die Familienzusammenführung ist für zwei Jahre ausgesetzt worden. Ihre Töchter sind, wie gesagt, 16 und 15 Jahre alt. In dem Moment, in dem das Recht auf Familienzusammenführung eintreten würde, gilt es im Grunde genommen für diese Familie nicht mehr, weil die Töchter ab einem Alter von 18 Jahren nicht mehr das Recht haben, nach Deutschland geholt zu werden. Hier muss man festhalten: Eine Mutter, deren Familie zerrissen worden ist, ist natürlich schwer traumatisiert. Und da fragt man sich immer wieder: Wie soll eigentlich vor dem Hintergrund einer so menschenverachtenden Politik Integration gelingen?

(Beifall bei der LINKEN)

Ich erinnere mich noch sehr genau, wie der Innenminister hier im Februar gesagt hat, wir müssten jetzt notwendige Härten in Kauf nehmen. Aber man muss sie eben nicht in Kauf nehmen. Tun Sie nicht immer so, als wenn es nicht möglich wäre, die Familien hier wirklich aufzunehmen!

(Andrea Lindholz (CDU/CSU): Reden Sie auch mal mit Kommunalpolitikern? Nein!)

Wenn man den politischen Willen hat, dann ist es auch möglich. Ich finde es einfach nur noch abscheulich, wie hier immer wieder von Ihnen versucht wird, Menschen voneinander zu trennen und Familien zu zerreißen. Damit praktizieren Sie – insbesondere Sie auf der rechten Seite – eine Integrationsverweigerungspolitik.

(Beifall bei der LINKEN – Andrea Lindholz (CDU/CSU): So ein Unsinn!)

Meine Damen und Herren, das Gesetz wurde damals mit der Behauptung durchgeboxt – das richtet sich jetzt insbesondere an meine Kollegen von der SPD -, der subsidiäre Schutz würde ja nur Einzelne treffen. Doch muss man ganz klar sagen: Kaum war das Gesetz da, hat sich das geändert. Noch im Februar hatten wir einen sehr hohen Anteil von Anerkennungen als Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Der Anteil der Anerkennungen als Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz lag bei nur 1,2 Prozent; alle anderen syrischen Flüchtlinge – fast 99 Prozent – bekamen eine Anerkennung als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Heute liegt der Anteil der subsidiär Geschützten bei 73 Prozent. Man muss hier festhalten: Mehrheitlich sind hiervon Familien aus Syrien betroffen. Mit dieser Politik will die Koalition offenbar abschrecken, aber eben auch rechte Ressentiments bedienen; wir erleben es immer wieder, dass man der AfD hinterherkriecht.

(Andrea Lindholz (CDU/CSU): Frechheit, absolute Frechheit, Frau Kollegin!)

– Nein, es ist wirklich so, dass Sie sich im Grunde immer wieder anbiedern. Ich halte es für einen Skandal, dass Sie die Menschen dazu missbrauchen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Andrea Lindholz (CDU/CSU): „Skandal“! Das Wort hat noch gefehlt! – Martin Patzelt (CDU/CSU): „Skandal“? Das sind Unterstellungen! Ein Skandal sind die Unterstellungen!)

Ich habe es eben schon gesagt: Es ist nicht nur zynisch, sondern meines Erachtens auch verfassungswidrig. Das sieht man jetzt schon daran, dass etwa 25 000 Menschen geklagt haben und bei 90 Prozent der Entscheidungen vor Gericht Recht bekommen haben. Es wurde entschieden, dass der Status des subsidiären Schutzes nicht rechtens ist und dass die Familien nachziehen können, sobald der Status des Flüchtlings nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt wurde.

Generell muss man sich fragen: Wie kann man eigentlich den subsidiären Schutz für Flüchtlinge aus Kriegsländern verhängen? Es geht um Länder wie Syrien, Irak und Afghanistan. Wir wissen doch, dass dort eine Rückkehr nicht möglich ist. Man verunsichert doch die Flüchtlinge, wenn man ihnen für ein Jahr Schutz gewährt und ihnen verdeutlicht, dass sie dann möglicherweise ins Kriegsland zurückkehren müssen. Wer sind wir denn eigentlich, dass wir diesen Menschen keine Sicherheit geben, auch mit Blick auf ihre Integration?

(Andrea Lindholz (CDU/CSU): Asyl ist immer ein Anspruch auf Zeit!)

Kriegsflüchtlinge müssen im Regelfall wieder den Flüchtlingsstatus nach der Genfer Flüchtlingskonvention bekommen – das sieht der Gesetzentwurf der Grünen, aber auch der Antrag der Linken vor. Wir wollen, dass die Verfahren beschleunigt werden.

Sie haben hier dargelegt, Frau Woltmann, dass das schriftliche Anerkennungsverfahren nicht tauglich ist, weil möglicherweise Missbrauch stattgefunden hat.

(Barbara Woltmann (CDU/CSU): Möglicherweise? Der hat stattgefunden!)

Gucken Sie sich einmal die Antworten der Bundesregierung an. Da stellen Sie fest, dass wir so gut wie gar keinen Missbrauch haben.

(Barbara Woltmann (CDU/CSU): Ach was!)

Dann muss man auch einfach mal wieder zur Realität übergehen und wirklich schnelle Verfahren durchführen.

Meiner Meinung nach muss man hier noch andere Punkte ansprechen. 800 Kinder und Jugendliche, die aus Syrien und anderen Kriegsgebieten geflohen sind, haben in Deutschland auch nur den subsidiären Schutz. Ein Jugendlicher hat neulich zu mir gesagt: Solange meine Familie im Krieg ist, ist ein Teil von mir auch noch dort. – Da frage ich Sie: Wie nehmen Sie es eigentlich mit der Kinderrechtskonvention? Ist es nicht im Interesse des Kindeswohls, dass man alles tut, um so schnell wie möglich die Eltern nachzuholen? Ich meine, ja, und es muss unbedingt wieder eingeführt werden, dass wir Kindern hier das Kindesrecht auch zukommen lassen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jetzt noch einige Worte an die SPD. Über 50 Abgeordnete haben bei der Abstimmung über das Asylpaket II hier ihre Bauchschmerzen beklagt, gerade was den Punkt angeht, der hier verabschiedet wurde. Ich kann nur sagen: Ich hoffe, Ihre Bauchschmerzen sind inzwischen so schlimm, dass Sie nicht nur mal hier und dort ankündigen, diese Praxis verändern zu wollen, sondern dass Sie endlich den Mumm haben, wirklich etwas zu verändern und entsprechende Initiativen vorlegen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich finde, es ist wirklich ein Skandal, dass die sozialdemokratische Partei so etwas durchgehen lässt.

Vielleicht ein Punkt noch. Man muss auch sagen, selbst wenn die zweijährige Aussetzung von Familiennachzug abgewartet wird, aber auch für viele andere, die das entsprechende Recht nach der Genfer Flüchtlingskonvention haben: Wir haben auch ein Riesenproblem bei den Botschaften. Es gibt Wartezeiten von mehr als einem Jahr, bis überhaupt ein Termin für die Visabeantragung stattfinden kann. Meine Damen und Herren, es dauert Jahre, bis überhaupt – egal ob nach der Genfer Flüchtlingskonvention oder bei subsidiärem Schutz – die Familien zusammengeführt werden. Auch hier muss endlich etwas geschehen. Wir brauchen mehr Personal in den Botschaften und im Auswärtigen Amt, das das bearbeitet, damit die Familien schneller zusammenkommen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Frau Jelpke, erlauben Sie eine Zwischenfrage eines SPD-Kollegen, dessen Namen ich jetzt nicht unmittelbar weiß? Er ist jedenfalls bei der SPD.

Ulla Jelpke (DIE LINKE):

Ja, gerne.

Christian Petry (SPD):

Mein Name ist Christian Petry.

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Das werde ich mir jetzt ewig merken.

Christian Petry (SPD):

Ich komme aus dem Saarland, und deswegen frage ich Sie auch: Ein weiterer Saarländer Ihrer Partei, Oskar Lafontaine, hat eine Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen gefordert. Jeder, der darüber hinaus kommt, soll keine Hilfeleistung des Staates mehr bekommen. Angesichts Ihrer Kritik, die Sie eben an der Sozialdemokratie geübt haben, frage ich Sie, ob Sie das etwas einordnen können und ob Sie bereit sind, auch daran Kritik zu üben.

Ulla Jelpke (DIE LINKE):

Dafür habe ich eine klare und kurze Antwort: Das Asylrecht kennt keine Obergrenze.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das sollten langsam auch Sie begreifen: Obergrenzen hebeln das Grundrecht aus. Deswegen müssen wir gar nicht weiter darüber diskutieren. Obergrenzen gibt es für uns nicht.

(Dagmar Ziegler (SPD): Für uns auch nicht!)

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Aber trotzdem an die Redezeit denken.

Ulla Jelpke (DIE LINKE):

Ja, ich komme zum Schluss. – Ich habe nur noch einen ganz kurzen Punkt; der betrifft im Grunde genommen die Abschottungspolitik, die auf diesem Weg gemacht wird. Das Schlimme ist für mich, dass viele Menschen, deren Familien in Kriegsgebieten oder in elendigen Lagern sitzen, jetzt überlegen, ihr Asylrecht hier an den Nagel zu hängen und zurückzukehren, oder aber dass sie wieder die Schleuser in Anspruch nehmen und die Angehörigen sich auf die gefährlichen Wege des Mittelmeers begeben. Ich finde, es ist ein riesiger Skandal, dass Sie den einzigen legalen Weg für Menschen, die hier sind, Asyl haben und ihre Familien auf legalem Weg herbringen könnten, zumachen. Das muss geändert werden. Ich fordere Sie auf: Unterstützen Sie unsere Anträge. Dann kommen wir der Menschenrechtspolitik wirklich ein ganzes Stück näher.

Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsidentin Claudia Roth:

Vielen Dank, Ulla Jelpke. – Nächster Redner für die SPD: Rüdiger Veit.

(Beifall bei der SPD)