Artikel: Verhängnisvoll nachsichtig

Aus: Sozialistische Alternativen erkämpfen, Beilage der jW vom 14.01.2017

Deutschlandweit brennen Flüchtlingsunterkünfte – doch Justiz und Polizei jagen Antifaschisten

 von Ulla Jelpke
 
Das Bundeskriminalamt kommt in einer vorläufigen Bilanz für die ersten drei Quartale 2016 auf 921 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte und Geflüchtete, darunter neben zahlreichen Fällen von Sachbeschädigung und Volksverhetzung auch 66 Brandanschläge. Die Tageszeitung taz zählte sogar 142 solcher vermutlichen Brandstiftungen im vergangenen Jahr. Ein Ende der menschenfeindlichen Agitation sei »nicht absehbar«, beklagte das BKA in einem internen Lagebild, es gäbe eine »weiterhin herausragende« Mobilisierung der rechten Szene in der Flüchtlingsfrage. Die Gefahr gehe laut dem Amt nicht mehr nur von »emotionalisierten Einzeltätern« aus, vielmehr müsse aufgrund der Affinität der Rechtsextremen zu Waffen und der hohen Straftatendichte in einzelnen Regionen »auch die Bildung terroristischer/krimineller Gruppen innerhalb des rechten Spektrums in Betracht gezogen werden«. Dabei sei es für die Mehrheit der Brandstifter von nachrangiger Bedeutung, ob die angegriffenen Gebäude bewohnt seien.

All das ist auch dem jahrzehntelangen Wegsehen der Ermittler gegenüber der extremen Rechten geschuldet. Dies hat nicht zuletzt die Affäre um den rechtsterroristischen »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) verdeutlicht. Bezeichnend ist auch der Umgang der Sicherheitsbehörden mit der Szene der sogenannten Reichsbürger, die jahrelang als skurrile Sonderlinge abgetan wurden. Obwohl die Ablehnung der Bundesrepublik und ihrer verfassungsmäßigen Ordnung den zentralen politischen Daseinszweck dieser rechtsextremen Strömung ausmacht, wurden in Ämtern beide Augen zugedrückt, wenn »Reichsbürger« Waffenscheine beantragten und aufrüsteten. Allein in Bayern soll es mehr als 340 ganz legal Waffen tragende »Reichsbürger« geben. Sogar unter Polizisten wurden einzelne geduldet. Erst als im Oktober 2016 ein übrigens mit der örtlichen Polizei bestens vernetzter »Reichsbürger« in Georgensgmünd bei Nürnberg auf Beamte schoss, von denen einer seinen schweren Verletzungen erlag, wachten die Behörden langsam auf. Sie versuchen nun, die reichsbürgerlichen Staatsfeinde wieder zu entwaffnen.

Für Verfassungsschutz, Polizei und Justiz in der Bundesrepublik gilt traditionell: Der Feind steht links. So nachsichtig rechte Gewalttäter als betrunkene Jugendliche oder romantische Waffennarren verharmlost werden, so energisch ist der Verfolgungseifer gegen radikale Linke und engagierte Antifaschisten.

Insbesondere der Freistaat Sachsen – langjährige NPD-Hochburg und Pegida-Kernland – geht hier seit langem mit ungutem Beispiel voran. Erinnert sei an die Kriminalisierung der massenhaften antifaschistischen Proteste gegen den alljährlich im Februar stattfindenden neonazistischen Großaufmarsch in Dresden. 2009 bis 2011 war es dem breiten Bündnis »Dresden Nazifrei« gelungen, diese damals größte rechtsextreme Kundgebung in Europa durch Blockaden zu stoppen. Doch am 19. Februar 2011 ging die Polizei mit massiver Gewalt gegen die antifaschistischen Gegendemonstranten vor. Das Dresdner Haus der Begegnungen, in dem sich Anwälte, Medienverantwortliche und Koordinatoren der Proteste befanden, wurde von einem Sonderkommando der Polizei gestürmt. Gegen rund 50 Personen wurde ein Ermittlungsverfahren wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung nach dem Paragraphen 129 Strafgesetzbuch eingeleitet. Der Vorwurf lautete, die Betroffenen hätten organisiert Neonazis angegriffen. Prominentester Beschuldigter war der Jenaer Stadtjugendpfarrer Lothar König. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens erfolgten offene und verdeckte Observationen, Telefon- und Internetüberwachung, Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme von Computern und persönlichen Gegenständen, das Aushorchen von Bekannten und Familien der Beschuldigten.

In welchem Umfang die Polizei ermittelte, macht die Tatsache deutlich, dass am Tag des Neonaziaufmarsches die Telekommunikationsdaten von rund 20.000 Personen im Dresdner Stadtgebiet erfasst wurden. Bis Herbst 2014 wurden die Paragraph-129-Verfahren gegen die Dresdner Antifaschisten aus Mangel an Beweisen, aufgrund fehlender Tatnachweise oder wegen geringfügiger Schuld und fehlendem öffentlichen Verfolgungsinteresse eingestellt. Doch knapp vier Jahre lang wurde die antifaschistische Szene mit allen Sondervollmachten nach Paragraph 129 ausgeforscht, Dutzende engagierte Antifaschisten wurden in ihrem Privatleben ebenso wie in ihrer politischen Tätigkeit deutlich eingeschränkt, Hunderte oder Tausende andere gerieten nur durch ihre Teilnahme an den Dresdner Protesten ins Fahndungsnetz. Nicht zu vernachlässigen ist zudem der Einschüchterungseffekt, der von einer solchen Kriminalisierung ausgeht.

Erst am 7. Januar fand der Prozessschrecken für den Berliner Antifaschisten Tim H. ein Ende: Erstinstanzlich war der Familienvater 2013 wegen seiner Teilnahme an einer Blockade gegen die Neonazis am 19. Februar 2011 in Dresden zu einer Haftstrafe von zwei Jahren ohne Bewährung verurteilt worden. Der Vorwurf lautet auf Landfriedensbruch mit Rädelsführerschaft. So soll Tim H. mit einem Megaphon andere Demonstranten mit dem Ruf »Kommt nach vorne« zum Durchfließen einer Polizeikette angeleitet haben. Aus dem als Beweis dienenden Polizeivideo waren tendenziös entlastende Szenen herausgeschnitten worden, das Megaphon wurde nie gefunden, Zeugen widersprachen den Anschuldigungen. Im Januar 2015 hob daher das Landgericht Dresden das Urteil gegen Tim H. auf. Doch die Staatsanwaltschaft Dresden legte Revision ein. Seit Ende Dezember 2016 wurde so zum dritten Mal gegen den nicht vorbestraften Berliner Antifaschisten verhandelt; dieses Verfahren endete im Januar wieder mit Freispruch.

Das Ziel ist offensichtlich, Menschen von der Teilnahme an antifaschistischen Protesten abzuschrecken. Denn der Feind steht weiterhin links – nicht nur für die sächsische Justiz