Erklärung von Ulla Jelpke zum Ausgang des Referendums in der Türkei
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sich zum Sieger im Referendum über die Einführung einer auf seine Person zugeschnittenen Präsidialdiktatur erklärt. Die bereits jetzt durch den Ausnahmezustand seit dem Putschversuch im Juli letzten Jahres geltenden Sondervollmachten Erdogans, per Dekret am Parlament vorbei zu regieren, bekommen damit eine verfassungsmäßige Grundlage. Insofern kann das Referendum als vorläufiger Schlusspunkt eines von Erdogan betriebenen Staatsstreiches gesehen werden. Dieser begann im Frühjahr 2015 mit der Aufkündigung des zwischen der Regierung und dem inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan vereinbarten Dolmabahce-Abkommens über eine Lösung der kurdischen Frage durch Erdogan. Die nächste Etappe war die Nichtakzeptanz des Wahlergebnisses vom Juni 2015, als die Regierungspartei AKP ihre absolute Mehrheit einbüßte, und die von einer Strategie der Spannung begleiteten Neuwahlen im November 2015. Im Frühjahr 2016 wurde der Widerstand der kurdischen Kommunen als Hochburgen der links-kurdischen HDP durch die weitgehende Zerstörung von rund zehn Städten militärisch zerschlagen. Dann folgte die teilweise Entmachtung des Parlaments durch die Aufhebung der Abgeordnetenimmunitäten, die den Weg für die Verhaftung von Abgeordneten der linkskurdischen Opposition freimachten. Schließlich setzte Erdogan gestützt auf den Ausnahmezustand nach dem Putschversuch im Juli 2016 alle noch bestehenden demokratischen und rechtsstaatlichen Regularien außer Kraft, zehntausende Oppositionelle wurden aus dem Staatsdienst entlassen oder inhaftiert. Unter dem Ausnahmezustand fand dann das Referendum über die Präsidialdiktatur statt, für die es noch keine ausreichende verfassungsändernde parlamentarische Mehrheit gab.
Das Ergebnis des Referendums war mit offiziell 51,37 Prozent für das Ja zur Verfassungsänderung und 48,63 Prozent Nein-Stimmen ausgesprochen knapp.
Die Oppositionsparteien CHP und HDP sprechen von massiver Wahlmanipulation in Höhe von drei bis vier Prozent der abgegebenen Stimmen. So sollen bis zu 2,5 Millionen Wahlscheine in ungestempelten, also nicht von den jeweiligen Wahlvorständen autorisierte Umschlägen entgegen geltendem Wahlrecht von der Obersten Wahlkommission für gültig anerkannt worden sein. Diese Stimmen aber waren wahlentscheidend. Dass die von Anhängern der Regierungspartei AKP kontrollierte Oberste Wahlbehörde trotz der offensichtlichen Manipulation und Fälschung auf Antrag der Opposition eine neue Stimmauszählung anordnet oder gar das Ergebnis annulliert, ist kaum denkbar.
Auch nach Ansicht der OSZE war zudem der Wahlkampf für das Referendum durch extrem ungleiche Bedingungen für Befürworter und Gegner des Präsidialsystems geprägt. Während der aus der Regierungspartei AKP und der faschistischen MHP bestehende Ja-Block alle Mittel des Staatsapparates für ihren Wahlkampf nutzen konnte, sah sich die Opposition durch Versammlungsverbote, Verhaftungen ihrer Flugblattverteiler und Wahlbeobachter und nur minimaler Sendezeit auf staatlichen Sendern sowie Drohungen der Regierung wegen vermeintlicher Terrorunterstützung konfrontiert.
Bemerkenswert ist insbesondere, dass die meisten kurdischen Gebiete trotz massiver Repression, der Vertreibung von einer halben Millionen Menschen aus ihren zerstörten Städten, der Verhaftung von 5000 HDP-Mitgliedern sowie der Übernahme der Verwaltung durch Zwangsverwalter in rund 80 Städten das Nein überwog. Der kurdische Widerstand gegen die Erdogan-Diktatur erweist sich damit selbst unter Ausnahme- und Kriegsrecht als relativ ungebrochen. Doch auch in westtürkischen Großstädten einschließlich Istanbul, Ankara und Izmir siegte mehrheitlich das Nein.
Dass das Ergebnis trotz dieses unfairen Wahlkampfes, der massiven Einschüchterung und Repression sowie Manipulation bei Millionen Ja-Stimmen nur so knapp zu Gunsten Erdogans ausfiel, ist ermutigend. Obwohl AKP und MHP sowie kleine rechtsextreme Parteien für das Ja eintraten, kamen sie zusammen auf rund 10 Prozent weniger als bei den letzten Parlamentswahlen im November 2015. Bei einem fairen Wahlkampf und einer freien, nicht manipulierten Abstimmung wäre mit Sicherheit eine deutliche Mehrheit für das Nein zustande gekommen. Das Referendum ist kein Beweis der Zustimmung zu Erdogan, sondern offenbart im Gegenteil seine Schwäche.
Die in sich gespaltene Opposition steht jetzt vor der schweren Herausforderung, sich auf einen Minimalkonsens gemeinsamer demokratischer Ziele zu verständigen. Die zwei entscheidenden Bruchpunkte für Erdogans Herrscht sind die desolate, auf Kapitalzuflüsse aus dem Ausland angewiesene Wirtschaftslage sowie die ungelöste kurdische Frage. Neben dem Eintreten für die Verteidigung bzw. Wiedererlangung demokratischer Grundrechte wie der Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gilt es insbesondere hier den Hebel anzulegen. Einem gemeinsamen Widerstand der Nein-Sager steht allerdings die nach wie vor chauvinistische Haltung großer Teile der CHP als stärkster Oppositionspartei sowie der von der MHP abgespaltenen Nein-Sager gegenüber den Kurden und ihrem Kampf um Selbstbestimmung entgegen. Die rein parlamentarische Orientierung der CHP wird sich angesichts des faktisch schon seit dem Putschversuch im Juli 2016 entmachteten Parlaments und der gleichgeschalteten Justiz als wirkungslos erweisen. Nicht unterschlagen werden sollte in diesem Zusammenhang, dass die CHP mit ihrer Zustimmung zur Aufhebung von Abgeordnetenimmunitäten bereits im Mai letzten Jahres den Weg zur Verhaftung von HDP-Abgeordneten und der (Selbst-)Entmachtung des Parlaments freigemacht hatte. Nur wenn es der CHP gelingt, ihre Staatsgläubigkeit und ihren anti-kurdischen Chauvinismus zu überwinden, wird sie gemeinsam mit der HDP einen wirklichen, vor allem außerparlamentarisch zu führenden, Widerstand gegen die Erdogan-Diktatur leisten können. Und nur wenn es HDP und CHP sowie den kleineren linken Parteien gelingt, die sozialen Nöte der Bevölkerung angesichts der wirtschaftlichen Krise bei fortgesetzter neoliberaler Regierungspolitik zu thematisieren, kann ein Einbruch in Lager der Ja-Sager und Erdogan-Unterstützer gelingen. Eine klassenkämpferische Orientierung jenseits einer an Ethnie oder Glaube festgemachten Identitätspolitik – ohne freilich die besondere Unterdrückung von Kurden, Aleviten und Christen zu ignorieren– könnte der Schlüssel zu einer breiten Widerstandsbewegung gegen die AKP-MHP-Front werden.
Dass 63 Prozent der an der Abstimmung beteiligten türkischen Staatsbürger in Deutschland aus der sicheren Distanz für die Diktatur in der Türkei gestimmt haben, ist erst einmal erschreckend. Doch bei näherer Betrachtung relativiert sich dieses Bild etwas. So hat nur knapp die Hälfte der hier lebenden Wahlberechtigten überhaupt an der Abstimmung teilgenommen. Und das Ergebnis blieb Prozent hinter dem gemeinsamen Ergebnis der beiden für das „Ja“ werbenden Parteien AKP (59,7%) und MHP (7,5%) in Deutschland bei den letzten Parlamentswahlen im November 2015 zurück. Das bedeutet: die Prozentzahl der Erdogan-Unterstützer in Deutschland ist nicht weiter angestiegen. Und nur eine Minderheit der in Deutschland lebenden türkischen Staatsbürger bzw. Doppelstaatsbürger hat effektiv für die Diktatur votiert. Es wäre verheerend, kurzerhand alle in Deutschland lebenden Türken als rechtsextreme Demokratiefeinde einzustufen. Und auch ein Großteil der Ja-Wähler hier tat dies nicht unbedingt aus Zustimmung zur autoritären Politik Erdogans (vielen war der Inhalt der zur Abstimmung stehenden Verfassungsänderungen überhaupt nicht bekannt). Vielmehr ist die im Vergleich zur Türkei weit überdurchschnittlich hohe Zustimmung zum Ja auch das Ergebnis einer jahrzehntelang verfehlten Integrationspolitik in Deutschland. Auch einige Linke werden gewünscht haben, die Diktatur-Wähler sollten doch gleich in die Türkei gehen. Doch entgegen solcher nachvollziehbarer Reflexe gilt es jetzt erst recht für eine wirkliche Integration aller hier lebenden Menschen einzutreten. Gleiche demokratische und soziale Rechte einschließlich dem Wahlrecht für alle seit mindestens fünf Jahren hier lebenden Menschen ist dafür die Schlüsselforderung. Leitkultur-Debatten darüber, ob der Islam zu Deutschland gehöre und dergleichen werden dagegen ebenso kontraproduktiv sein wie die Forderung aus den Unionsparteien zur Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft. Um die türkeistämmige Diaspora dem Griff Erdogans zu entreißen, ist es aber auch notwendig, entschlossen mit den Mitteln des Strafrechts gegen die Strukturen des türkischen Geheimdienstes mit seinen vielen Tausend Spitzeln und Spionen in Deutschland vorzugehen. Alle Privilegien für den an die türkische Regierung angeschlossenen Islamverband DITIB müssen entzogen und entsprechende Staatsverträge aufgekündet werden.
Die Bundesregierung trifft eine deutliche Mitschuld bei der Errichtung der Erdogan-Diktatur. Mit dem EU-Türkei-Flüchtlingsdeal spannte Bundeskanzlerin Merkel den Autokraten Erdogan als Türsteher der EU ein. Zum Preis dieses Abkommens zählte das Schweigen der Bundesregierung zu den Kriegsverbrechen der Türkei in Kurdistan ebenso wie zur Unterstützung von dschihadistischen Terroristen in Syrien und zur Gleichschaltung der türkischen Presse durch Massenverhaftungen von Journalisten und der Schließung von Oppositionsmedien. Nur noch beschämend erscheint die Reaktion der Bundesregierung, die nach allen Nazi-Beschimpfungen Erdogans im Wahlkampf jetzt nach dem durch Betrug und Repression erfolgten Referendumssieg auf eine Rückkehr zum Normalzustand hofft. So kündigte Kanzleramtsminister Peter Altmaier an, jedes Ergebnis akzeptieren, das „in einer freien und demokratischen Wahl“ zustande gekommen sei. Dass bereits der Wahlkampf unter dem Ausnahmezustand verlaufen war, schien den Unionspolitiker nicht zu stören. Als großer Heuchler erwies sich SPD-Chef und Kanzlerkandidat Martin Schulz mit seiner Aussage, der knappe Ausgang des Referendums zeigte, dass Erdogan nicht die Türkei sei und der Einsatz für Demokratie und Menschenrechte weitergehen müsse. So richtig dies grundsätzlich ist, so sehr kommt es aus dem falschen Munde. Denn als EU-Politiker gehörte Schulz zu den Chef-Aushändlern des verhängnisvollen Flüchtlingsdeals mit der Türkei.
Wenn wir von Deutschland aus die Demokratinnen und Demokraten in der Türkei und Nord-Kurdistan unterstützen wollen, heißt dies von daher, dass wir den Druck auf die Bundesregierung erhöhen müssen.
Wir brauchen unsere eigene Nein-Kampagne:
Nein zum EU-Türkei-Flüchtlingsdeal!
Nein zur Geheimdienstzusammenarbeit zwischen Deutschland und der Türkei!
Nein zu deutschen Waffenlieferungen und dem Bau einer Panzerfabrik durch Rheinmetall in der Türkei!
Nein zum PKK-Verbot und der Verfolgung linker Oppositioneller aus der Türkei als Terroristen!
Nein zu Ausgrenzung Rassismus und Islamhass!