Von Ulla Jelpke (erschienen am 10.01.2018 auf www.linksfraktion.de)
Immer wieder wird die Debatte um angebliche Mängel bei der Altersfeststellung minderjähriger Schutzsuchender hochgekocht. Der entsetzliche Mord an einer 15-Jährigen in Kandel war für die CSU Anlass, das Thema erneut in den Vordergrund zu rücken – entgegen allen Ratschlägen von Fachleuten und Medizinern. Das Mädchen war nach bisherigen Ermittlungsergebnissen von ihrem ebenfalls minderjährigen Freund, nach Polizeiangaben ein 15-jähriger unbegleiteter Flüchtling aus Afghanistan, erstochen worden. Der Vater der Ermordeten äußerte erhebliche Zweifel an der Minderjährigkeit des Täters. Die CSU versuchte sich vor diesem Hintergrund mit Forderungen nach einer flächendeckenden medizinischen Altersfeststellung bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu profilieren. Ganz ähnlich die AfD, die diese Forderung seit langem im programmatischen Gepäck hat. Doch in der Debatte spielen wie so oft weder Logik noch Fakten eine Rolle, es geht vor allem um das Anheizen von Ressentiments und Vorurteilen, um Stimmen am rechten Rand abzugreifen. Die Minderjährigkeit des Täters war im konkreten Fall durch die Behörden bereits zuvor festgestellt worden.
Keine Straftat wird dadurch verhindert
Es ist absurd, medizinische Altersfeststellungen als Mittel der Verbrechensprävention verkaufen zu wollen. Keine Straftat wird dadurch verhindert, dass man das genaue Alter eines jungen Menschen zu kennen glaubt. Eine Prävention von Verbrechen erfordert vielmehr, dass junge, häufig traumatisierte Geflüchtete engmaschig betreut und unterstützt werden und dass es ausreichende psychologische Behandlungsangebote und Integrationsangebote gibt. Das aber wird durch die Einschätzung junger Geflüchteter als volljährig jedoch gerade verhindert. Jugendhilfe gibt es dann nicht, und Asylsuchenden aus Afghanistan wird mangels angeblicher ‚Bleibeperspektive‘ der Zugang zu Sprachkursen und Integrationsmaßnahmen versagt. In der Regel haben die jungen Menschen auch keinen Anspruch auf einen Nachzug ihrer Eltern und Geschwister, selbst wenn sie einen Schutzstatus erhalten. Ohne staatliche und familiäre Unterstützung sind diese jungen Menschen dann oft auf sich alleine gestellt. Gesellschaftliche Umstände rechtfertigen keine individuellen Verbrechen. Aber wer über gesellschaftliche Umstände als wichtige Ursachen für individuelle Verbrechen nicht reden will, sollte von Opferschutz besser schweigen.
Verhältnismäßige Mittel sind geboten
Eine erforderlichenfalls auch medizinische Altersfeststellung bei unbegleiteten Flüchtlingen ist bei entsprechenden Zweifeln bereits nach geltendem Recht möglich, vor allem durch die Jugendämter, aber auch durch viele andere Institutionen wie dem BAMF oder den Ausländerbehörden. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags spricht von einer Zuständigkeitsvielfalt. Unabhängig davon kann die (medizinische) Altersfeststellung im Ermittlungs- und Strafverfahren, also nach einer Straftat, eine wichtige Rolle spielen. Das ist gängige Praxis und Rechtslage, die niemand anzweifelt. Dabei geht es jedoch immer um Feststellungen im Einzelfall und um die gebotene Wahl der richtigen und verhältnismäßigen Mittel zur Altersfeststellung – im Gegensatz zur rechten Forderung nach anlasslosen, flächendeckenden medizinischen Altersfeststellungen.
Methoden medizinischer Altersfeststellungen sind mehr als ungenau
Grundsätzlich ist eine medizinische Altersfeststellung ein Eingriff in die Grundrechte. Der Präsident der Bundesärztekammer Montgomery erklärte: „Röntgen ohne medizinische Indikation ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit.“ Ärzte verweigern sich deshalb aus gutem Grund und mit Verweis auf die medizinische Ethik gegen pauschale medizinische Altersfeststellungen. Immer wieder werden in der Praxis nicht nur Röntgenuntersuchungen, sondern auch Begutachtungen der Genitalien vorgenommen, was nicht nur demütigend ist, sondern für junge Schutzsuchende, insbesondere durch sexuelle Gewalt traumatisierte Jugendliche, eine retraumatisierende Wirkung haben kann. Dabei ist seit langem bekannt, dass die Methoden medizinischer Altersfeststellungen mehr als ungenau sind. Körperliche Reife kann sehr unterschiedlich sein und auch vermeintlich „objektive“ Methoden wie das Röntgen der Handwurzel weisen große Fehlerquoten auf. Nach empirischen Untersuchungen gibt es hier eine Standardfehlerquote von mehr als 14 Monaten bis zu fünf Jahren. Häufig geht es bei der Altersfeststellung aber gerade um die „Grenzfälle“, bei denen sich der Unterschied zwischen 16-jährig oder 18-jährig auf die Rechtslage, etwa im Asylverfahren, dramatisch auswirkt, unter anderem was den Familiennachzug betrifft.
Scheinheilige Debatte
Eine pauschale medizinische Altersfeststellung bei unbegleiteten jungen Flüchtlingen stellt auch wegen dieser massiven Fehlerquote einen unzulässigen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit Schutzsuchender dar. Kein mögliches Verbrechen würde damit verhindert. Dafür stehen CSU und AfD für eine restriktive Asylpolitik der Ausgrenzung, die sehenden Auges eine kriminelle Entwicklung junger Geflüchteter eher befördert als behindert. Die Debatte ist damit auch zutiefst scheinheilig.