Kommentar von Ulla Jelpke zum Merkel-Seehofer-Streit in junge Welt vom 3. Juli 2018
Horst Seehofer mimt den Selbstmordattentäter. Der Innen- und Heimatminister scheint nicht davor zurückzuschrecken, im Falle seines in Aussicht gestellten Rücktritts die Kanzlerin mit in den Abgrund zu reißen. Wir sollten nicht den Fehler machen, Seehofers Amoklauf damit abzutun, dass die Bayern eben Raufbolde seien. Die bayerischen Landtagswahlen im Herbst sind ein gewichtiger Faktor, um das Agieren der CSU zu verstehen. Denn mit der AfD, die bislang noch nicht dem Landtag angehört, ist der CSU eine Konkurrenz von rechts erwachsen, die sie um die Fortsetzung ihrer Alleinregierung bangen lässt. Die Christsozialen fühlen sich mit der Übernahme der Inhalte der rechten Konkurrenz dem machtpolitischen Credo ihres Idols Franz Josef Strauß verpflichtet, wonach es rechts der CSU keine demokratisch legitimierte Partei geben dürfe.
Es geht aber um mehr als den Kampf einer Regionalpartei für das Machtmonopol im Freistaat. Vielmehr spiegelt der Merkel-Seehofer-Streit tiefere Differenzen innerhalb der herrschenden Klasse über den Umgang mit den Herausforderungen der kapitalistischen Globalisierung wider. Im konkreten Fall geht es um die sogenannte robuste Durchsetzung der Abwehr von Migration als unvermeidbarer Folge der vom globalen Norden rücksichtslos vorangetriebenen neoliberalen Ökonomie und neokolonialen Politik.
Seehofer und die CSU stehen für eine auch in anderen EU-Staaten wie Ungarn und Italien offen zutage tretende Tendenz einer Fraktion der herrschenden Klasse zu autoritären Lösungen und nationalen Alleingängen. Diese mittelständische Kapitalfraktion muss nämlich befürchten, im Rahmen der neoliberalen Globalisierung unter die Räder der internationalen Konkurrenz zu kommen und ruft daher nach nationaler Abschirmung.
Die Mehrheit der herrschenden Klasse, die für ihre Profite auf den europäischen Markt angewiesen ist und sich durch die Merkel-CDU und die SPD repräsentiert fühlt, lehnt ein solches Vorgehen derzeit noch als schlecht fürs eigene Geschäft ab. Sie setzt auf europäische Lösungen – in dem Bewusstsein, aufgrund der wirtschaftlichen Stärke Deutschlands schwächeren Staaten den eigenen Willen aufzwingen zu können. Auch die liberale Haltung dieser vom Exportkapital geführten Fraktion der Bourgeoisie ist mehr Schein als Sein. In der Flüchtlingspolitik zeigt sich dies überdeutlich. Die Differenzen zwischen Merkel und Seehofer sind hier minimal, wie der Brüsseler EU-Gipfel in der vergangenen Woche deutlich gemacht hat. Denn über das dort vereinbarte Ziel, Schutzsuchende durch ihre Internierung in Lagern in Afrika möglichst gar nicht mehr auf europäischen Boden gelangen zu lassen, herrscht Einigkeit. Die Elenden, die jetzt Schutz und ihren Anteil am Wohlstand zu bekommen versuchen, haben von beiden reaktionären Lagern ebenso wenig zu erwarten wie die Lohnabhängigen hierzulande.