Mehr Zwangsmaßnahmen bei Abschiebungen aus BRD. Psychotherapeuten beklagen Umgang mit traumatisierten Geflüchteten
Artikel von Ulla Jelpke erschienen in junge Welt vom 13. August 2019
Bei Abschiebeflügen setzt die Bundespolizei immer öfter sogenannte »Hilfsmittel körperlicher Gewalt« ein. Allein im ersten Halbjahr 2019 wurden 1.289 ausreisepflichtige Migrantinnen und Migranten mit Hand- oder Fußfesseln, Gurten oder Klettbändern wie Pakete verschnürt. Das sind bereits mehr Fälle als im gesamten letzten Jahr. Diese Zahlen nannte die Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke über Abschiebungen und Ausreisen im ersten Halbjahr 2019.
Der verstärkte Einsatz solcher Zwangsmaßnahmen sei »unter anderem darauf zurückzuführen, dass mehr Personen im Rückführungsverfahren Widerstandshandlungen vornehmen«, rechtfertigte die Bundesregierung dieses Vorgehen. Zu Fesselungen kam es insbesondere bei Migranten aus Algerien und Marokko sowie den westafrikanischen Staaten Nigeria und Gambia. Die Verzweiflung vieler Abgeschobener ist nachvollziehbar. So hat der Bundestag Algerien und Marokko zu »sicheren Herkunftsstaaten« erklärt. Zwar steht bislang eine notwendige Zustimmung des Bundesrates noch aus. Doch Geflüchtete aus diesen Ländern haben praktisch keine Chance auf Anerkennung ihrer Asylanträge, obwohl es in beiden Staaten zur Verfolgung von Oppositionellen, nationalen Minderheiten und Homosexuellen kommt.
Mehr als 2.000 Abschiebungen auf dem Luftweg scheiterten in den ersten sechs Monaten 2019. Als Grund dafür wurden in 869 Fällen »Widerstandshandlungen« genannt, in 335 Fällen verweigerten die Fluggesellschaft oder der Pilot die Mitnahme. 64 Mal musste eine Abschiebung wegen eingelegter Rechtsmittel abgebrochen werden. In 20 Fällen führten versuchte Suizide oder Selbstverletzungen zum Abbruch.
Insgesamt wurden im ersten Halbjahr 11.496 Menschen abgeschoben – das entspricht dem Vorjahresniveau. 37 Prozent davon waren sogenannte Dublin-Überstellungen in andere europäische Länder. 161 Abschiebungen erfolgten in das Kriegsland Afghanistan und 191 in die Türkei und damit in das autokratische Erdogan-Regime.
Mit Verweis auf angebliche »Vollzugsdefizite« wurde die Abschiebepolitik in den letzten Jahren von der Bundesregierung immer weiter verschärft. Belastbare Zahlen, die diese »Defizite« belegen, gibt es indes nicht. So haben im ersten Halbjahr 2018 – wie schon im Vorjahr – mit 17.985 Ausreisen weit mehr abgelehnte Asylsuchende Deutschland »freiwillig« verlassen als in diesem Zeitraum vollziehbar ausreisepflichtig wurden. Obwohl humanitäre Bleiberechtsregelungen statt verschärfter Abschiebepraxis das Gebot der Stunde sein müssten, vergiftet der Ruf nach immer mehr Ausweisungen weiter das politische Klima.
Unterdessen üben Ärzte und Psychotherapeuten deutliche Kritik am Umgang des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit psychisch erkrankten Geflüchteten. Häufig würden psychiatrische Gutachten und ärztliche Stellungnahmen mit »Textbausteinen« als unzureichend begründet abgewiesen, kritisierte Elise Bittenbinder, die Vorsitzende der »Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer«, am Montag gegenüber den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Die Schreiben des Amtes wirkten, als würden sich die Mitarbeiter »nicht mehr professionell mit jedem Einzelfall auseinandersetzen«. So entstehe der Eindruck, es gehe darum, »politische Interessen durchzusetzen« anstatt »bestmöglichen Schutz von Opfern von Gewalt« sicherzustellen.