Die Luft- und Bodenangriffe der türkischen Armee und ihrer dschihadistischen Söldnerbanden auf Nordsyrien gehen mit unvermittelter Härte weiter. Gezielt greift sie zivile Infrastruktur wie Krankenhäuser, Wasser- und Stromversorgung, Bäckereien etc. an, um die Bevölkerung zu vertreiben. Erst am Sonntag bombardierte die türkische Luftwaffe einen zivilen Konvoi, wobei mindestens zwölf Menschen getötet und 74 verletzt wurden. Türkische Medien feiern die extralegale Hinrichtung einer kurdischen Politikerin durch eine Söldnergruppe als „gelungene Operation.“ Hunderttausende Menschen befinden sich bereits auf der Flucht. Das Ziel Erdogans ist es, die demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen der Kurden und anderer in Nordsyrien lebender Völker zu zerschlagen und eine mindestens 30 Kilometer tief auf syrisches Territorium reichende Besatzungszone zu errichten. Das türkische Militär und mit ihm verbündete islamistische Milizen führen eine gezielte Politik der gewaltsamen Veränderung der Bevölkerungsstruktur durch. Wie zuvor in Afrin sollen die Kurden vertrieben werden und die Region unter Missbrauch der Notlage von Millionen in der Türkei lebender syrischer Schutzsuchender in ein Erdogan-treues Protektorat umgewandelt werden. Ein weiteres Ziel der türkischen Regierung ist es offensichtlich, die Zehntausende gefangenen IS-Kämpfer zu befreien, um aus ihnen eine willfährige Söldnertruppe für weitere neoosmanische Eroberungen zu schaffen. Hunderte IS-Angehörige wurden bereits durch gezielte Angriffe der Türkei auf ein Internierungslager bei Ain Issa befreit.
Ich sehe in dem Abkommen zwischen der Autonomen Verwaltung von Nord- und Ostsyrien und der syrischen Regierung eine Chance, um den gemeinsamen Schutz der Grenzen und der Bevölkerung zu übernehmen. Und ich kann nur hoffen, dass die syrische Regierung die Rückkehr syrischer Truppen nach Nordsyrien nicht dazu nutzt, die dortigen demokratischen Errungenschaften der Selbstverwaltung und die erkämpfte Autonomie der Region rückgängig zu machen. Doch jetzt muss es zunächst einmal darum gehen, die verbrecherische türkische Invasion zurück zu schlagen, um die Vertreibung hunderttausender Menschen zu verhindern und die Rückkehr der Geflüchteten zu ermöglichen.
Möglich wurde der Angriff der Türkei auf Nordsyrien nur, weil die USA dafür grünes Licht gaben. Ein Großteil der verwendeten Waffen, darunter Leopard-II-Panzer und Heckler&Koch-Gewehre, stammen aus deutscher Lieferung oder Lizenzproduktion. Damit trägt auch die Bundesregierung eine Mitverantwortung an diesem völkerrechtswidrigen Besetzungs- und Vertreibungskrieg, der mit Fug und Recht als ein NATO-Krieg bezeichnet werden muss.
Von der Bundesregierung fordere ich weiterhin, ernsthaften Druck auf ihre NATO-Partnerin Türkei auszuüben, den Angriffskrieg auf Nordsyrien sofort zu beenden. Ein vollständiger Stopp von Rüstungslieferungen, einschließlich der bereits genehmigten Waffenexporte, wäre hier ein erster wichtiger Schritt. Die bisherigen Ankündigungen der Bundesregierung sind nichts weiter als heiße Luft, um in der Öffentlichkeit gut dazu stehen. Die Menschen in Nordsyrien brauchen keine salbungsvollen Erklärungen, sondern sofortige wirksame Taten. Es gilt, ein Menschheitsverbrechen zu verhindern. Zudem müssen Exportrisikogarantien für Investitionen deutscher Unternehmen in der Türkei gestoppt werden. Die in Deutschland operierenden Agenten, Trolle und Lobbyverbände der AKP-Regierung, wie beispielsweise DITIB mit seinen kriegshetzerischen Staatsimamen, müssen in ihre Schranken gewiesen werden, damit diese nicht länger Exiloppositionelle ausspähen, einschüchtern und bedrohen können.
Anstatt sich im Rahmen des schändlichen EU-Türkei-Flüchtlingsdeals von Erdogan um weitere Milliarden und politisches Stillschweigen zu den völkerrechtswidrigen Verbrechen der türkischen Armee erpressen zu lassen, sollte die Bundesregierung massive Infrastruktur- und Wiederaufbauhilfen für alle Regionen Syriens leisten und sich für eine Aufhebung des Syrien-Embargos stark machen. Denn das wären Voraussetzungen für eine wirklich freiwillige Rückkehr von Millionen in der Türkei lebender syrischer Flüchtlinge. Weiterhin muss der faktische Autonomiestatus von Rojava verteidigt werden, denn das Projekt von Rojava steht beispielhaft für den Aufbau eines demokratischen Mittleren Ostens.
Ulla Jelpke, MdB