Die Selbstgerechte

Sahra Wagenknechts neue Thesen

Kommentar von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt vom 10.04.2021)

 

Das neue Buch »Die Selbstgerechten« der ehemaligen Linke-Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht sorgt schon vor seinem offiziellen Verkaufsstart für Unruhe. Zu Recht, denn an diesem Wochen­ende möchte sich Wagenknecht auf dem Parteitag der NRW-­Linken wieder auf Platz eins der Liste zu den Bundestagswahlen wählen lassen.

Nicht weniger als ein als »linkskonservativ« bezeichnetes »Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt« möchte die Politikerin mit ihrem Buch vorlegen. Ihr Furor richtet sich dabei gegen eine »Lifestyle-Linke« innerhalb und außerhalb ihrer eigenen Partei, die die soziale Frage zugunsten von »Identitätspolitik« aus dem Blick verloren habe. Diese trage mit »linksliberalen Kulturkämpfen zur Spaltung und Polarisierung unserer Gesellschaft mindestens in gleichem Maße bei wie die Hetzreden der Rechten«. Hier sei angemerkt, dass erstere mit Forderungen nach inklusiver Sprache mitunter vielleicht nervt, während letztere zu einem gesellschaftlichen Klima beitragen, in dem Brandsätze auf Flüchtlingsheime fliegen und Menschen – wie in Hanau – aufgrund ihrer vermeintlichen Herkunft massakriert werden.

Natürlich gibt es auch eine jeder sozialen Programmatik entkleidete Identitätspolitik, die der Vernebelung neoliberaler Herrschaft dient. Dies ist etwa bei den deutschen Grünen oder der US-Administration unter Joseph Biden der Fall. Doch Wagenknecht behauptet pauschal, Identitätspolitik laufe darauf hinaus, »das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identitäten jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein«. Damit negiert sie einerseits reale Erfahrungen und Strukturen von gesellschaftlicher Unterdrückung wie Rassismus oder Sexismus. Und sie unterstellt andererseits den Betroffenen und damit indirekt auch Bewegungen wie »Black Lives Matter« oder »Me Too«, aus einer »Marotte« persönlichen Profit schlagen zu wollen.

Die Herrschaft der besitzenden Klassen und ihre Fähigkeit zur Ausbeutung beruht auf der Konkurrenz der Lohnarbeiter und ihrer Spaltung in besonders unterdrückte oder diskriminierte Gruppierungen mit verschiedenem Rechtsstatus und sozialem Ansehen. Die Klasse der Lohnabhängigen wird in Deutschland und anderen Industrie­nationen längst nicht mehr von weißen, männlichen Industrie­arbeitern dominiert. Insbesondere das moderne Dienstleistungsproletariat ist zu einem hohen Grad weiblich und migrantisch geprägt. Linke Klassenpolitik erfordert es daher, Formen der Ausgrenzung, die zur Schwächung des gemeinsamen Kampfes führen, eben nicht unter den Teppich zu kehren, sondern offensiv anzugehen.

So hart Wagenknecht mit den vermeintlich »Selbstgerechten« auf der Linken ins Gericht geht, so versöhnlich tritt sie nach rechts auf. Die Autorin kritisiert etwa eine antifaschistische Linke, die »den wirtschaftsliberalen Professor einer Verwaltungshochschule Jörg Meu­then verdächtigt, er wolle einen neuen Faschismus in Deutschland einführen«. Dass der AfD-Vorsitzende als Steigbügelhalter offener Faschisten in seiner Partei agiert, erscheint Wagenknecht unproblematisch.

Weit entfernt von einer antikapitalistischen Politik fordert Wagenknecht, »echtes Leistungseigentum muss Unternehmern das Leben erleichtern«. Ihre Unterscheidung der Motivation »echter Unternehmer«, die Firmen aufbauen, von derjenigen von »Kapitalisten«, die nur Rendite sehen wollen, ist dabei nichts anderes als die alte Mär vom schaffenden und raffenden Kapital. Dabei unterschlägt Wagenknecht, dass auch »echte Unternehmer« in erster Linie vom Streben nach Maximalprofit auf Kosten ihrer Angestellten getrieben sind.

Wer in einer tief gespaltenen Klassengesellschaft »gemeinsame Werte und Bindungen« oder gar »Leitkultur« als Voraussetzung für »Gemeinsinn und Zusammenhalt« einfordert, wie Wagenknecht, anstatt die Eigentumsverhältnisse grundlegend verändern zu wollen, vernebelt damit die tatsächlichen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse.

Es wäre indessen verfehlt, Wagenknecht AfD-Nähe unterstellen zu wollen. Denn ihre Argumentation bewegt sich durchweg im rechtssozialdemokratischen Rahmen. Auf die sozialistische Programmatik der Linkspartei stellt dies allerdings einen Angriff dar. Vor allem aber erscheint Wagenknechts Abqualifizierung von wirklichen Bewegungen wie »Fridays for Future«, Seebrücke und »Unteilbar« als kleinbürgerliche Akademiker aus reichem Hause als Affront gegen die dort engagierte Parteibasis der Linken. Wagenknechts diesen Aktivisten gegenüber erhobener Vorwurf der Selbstgerechtigkeit wird indessen zum Bumerang angesichts des in ihrem Buch mit keinem Wort erwähnten sang- und klanglosen Scheiterns der am grünen Tisch ­initiierten »Bewegung« »Aufstehen«. So wie »Aufstehen« eben nicht linke Kräfte parteiübergreifend vereinte, sondern für Spaltungen innerhalb der Linkspartei sorgte, so trägt auch Wagenknechts in ihrem Buch dargestellte Vision nicht zur Zusammenführung sozialer und gewerkschaftlicher Kämpfe mit antirassistischen, feministischen und ökologischen Bewegungen bei. Genau das wäre aber Aufgabe einer nicht ökonomistisch verengten sozialistischen Politik.