Kommentar von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt vom 12.05.2021)
Mehr als 2.100 schutzsuchende Männer, Frauen und Kinder haben zu Wochenbeginn innerhalb von nur 24 Stunden die italienische Insel Lampedusa erreicht. In Italien hat sich damit die Zahl der ankommenden Flüchtlinge im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verdreifacht. Ebenfalls gestiegen ist die Todesrate. Nach UN-Angabe sind dieses Jahr bereits 616 Menschen bei dem Versuch gestorben, das Mittelmeer in Richtung Europa zu überqueren. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres waren es 279. Mit Sicherheit liegen realistische Todeszahlen, da viele Schiffsunglücke nicht dokumentiert werden, noch um einiges höher. Fischer aus der libyschen Hafenstadt Suwara und dem tunesischen Zarzis berichten immer wieder von treibenden Bootswracks und Leichen in ihren Netzen.
Zwar werden Forderungen nach einer staatlich organisierten zivilen Seenotrettung weiterhin ignoriert, doch die EU ist im Mittelmeer bereits jetzt höchst präsent: Der Bundestag beschloss jüngst die Fortführung der Militäroperation »Irini«, in deren Rahmen auch der Kapazitätsaufbau und die Ausbildung der sogenannten libyschen »Küstenwache« erfolgt. Als Handlanger der EU übernimmt diese für ihre Menschenrechtsverletzungen berüchtigte Truppe den schmutzigen Job, die Schutzsuchenden zurück in die Hölle zu schleppen. Die Schiffe der Mission »Irini« selbst operieren weit im Osten, um bloß nicht auf Seenotrettungsfälle reagieren zu müssen.
Doch der allgemeine Trend geht ohnehin in Richtung Luftüberwachung: die europäische Grenzschutzagentur Frontex, die sich seit einigen Monaten gegen Vorwürfe der Beteiligung an rechtswidrigen Pushbacks verteidigen muss, überfliegt mit drei Flugzeugen den Mittelmeerraum. Auch der Einsatz einer Langstreckendrohne ist geplant. Praktisch – denn wer kein Schiff vor Ort hat, kann auch nicht retten. Was Frontex aber anscheinend sehr gut kann: die Koordinaten von Booten mit Geflüchteten an die libysche »Küstenwache« weitergeben, damit diese die Geflüchteten abfangen und zurück in Haftlager zwingen kann.
Das Seenotrettungsschiff »Sea-Watch 4« wurde am Montag nach der Rettung von mehr als 450 Menschen erneut auf Sizilien festgesetzt, auch die »Sea-Watch 3« ist bereits blockiert. In den kommenden Sommermonaten werden unzählige weitere verzweifelte Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen, um eine Chance auf ein Leben zu haben. Viele werden der europäischen Abschottungspolitik zum Opfer fallen.