Kommentar von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt vom 29.07.2021)
Anlässlich des 70. Jahrestags der Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention am Mittwoch häuften sich Stimmen, die vor einer Aushöhlung dieses maßgeblichen internationalen Abkommens zum Flüchtlingsschutz warnten. Insbesondere Kirchenvertreter und Nichtregierungsorganisationen riefen zu dessen Verteidigung auf.
Deutliche Kritik kam auch vom Chef des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, Filippo Grandi. Er beklagte, dass immer mehr Länder sich ihrer Verantwortung für den Flüchtlingsschutz entzögen. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten verstoßen seit Jahren systematisch gegen die Genfer Konvention. Deren Kernstück ist das sogenannte Verbot des Refoulement: Kein Mensch darf in einen Staat zurückgewiesen werden, in dem ihm Verfolgung, Folter oder unmenschliche Behandlung drohen. Doch genau das passiert an den Außengrenzen der EU und auch in der deutschen Abschiebepolitik tagtäglich.
Die griechische Küstenwache fängt routinemäßig Flüchtlingsboote im Ägäischen Meer ab und schleppt sie zurück in türkische Gewässer. Auch die EU-Abschottungsagentur Frontex ist in solche Aktionen verwickelt. An den europäischen Landgrenzen kommt es ebenfalls zu systematischen »Pushbacks«. Menschen werden zurückgeprügelt, ausgeraubt, entkleidet, mit Schusswaffen bedroht, ihre Telefone zerstört. Auf eine klare Verurteilung dieser Praxis durch die Kommission oder andere EU-Regierungen wartet man allerdings vergeblich. Denn um Menschen von der Einreise in die EU abzuhalten und die Zahl der Flüchtlinge niedrig zu halten, sind den Herrschenden fast alle Mittel recht.
Das zeigt auch die seit langem praktizierte Auslagerung des Flüchtlingsschutzes an Diktatoren und Warlords vor den Toren der Festung Europa. Der Flüchtlingsdeal mit dem türkischen Despoten Erdogan gehört ebenso in diese Kategorie wie die Zusammenarbeit mit den Milizen der sogenannten libyschen Küstenwache. Neu ist, dass die Genfer Flüchtlingskonvention immer unverhohlener angegriffen wird. Das dänische Parlament hat kürzlich ein Gesetz verabschiedet, das vorsieht, Asylverfahren künftig in Drittstaaten durchzuführen. Nach Dänemark sollen gar keine Flüchtlinge mehr gelassen werden. Auch in Großbritannien gibt es solche Pläne.
Dass es 1951 als Konsequenz aus den Verbrechen der Nazis gelungen ist, sich auf ein internationales Abkommen zu einigen, das Flüchtlingen verbindliche Rechte gewährt, muss nach wie vor als große Errungenschaft angesehen werden. Die Aushöhlung dieser Rechte in der Praxis zeigt aber zugleich, dass diese immer wieder aufs neue erkämpft und auch gegen die Interessen der Unterzeichnerstaaten verteidigt werden müssen: durch Klagen vor nationalen und internationalen Gerichten, Proteste auf der Straße und mit Hilfe des Drucks internationaler Organisationen.