Entschlossenes polizeiliches Vorgehen gegen sogenannte islamistische Gefährder gehört seit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt zu den Standardforderungen der herrschenden »Sicherheitspolitik«. Im erst kürzlich beschlossenen BKA-Gesetz ist nun vorgesehen, als solche eingestuften Personen elektronische Fußfesseln zu verpassen. Ausreisepflichtige »Gefährder« können auch dann in Abschiebehaft gesteckt werden, wenn überhaupt nicht absehbar ist, wann ihre Abschiebung durchgeführt werden kann, die üblichen Haftbefristungen gelten für sie nicht. Und in Bayern wurde eben erst ein Gesetz beschlossen, das erlaubt, diese Personen für bis zu drei Monate einzusperren.
Diese Verschärfungen mögen auf den ersten Blick einleuchten: Der Berliner Attentäter Anis Amri war selbst als »Gefährder« eingestuft und dennoch aus dem Fokus der Sicherheitsbehörden verschwunden. Das soll nicht mehr passieren. Zudem setzte vor einigen Jahren eine signifikante »Reisebewegung« salafistisch orientierter Personen Richtung Irak und Syrien ein, wo sie sich dem »Islamischen Staat« anschlossen. Kehren diese Leute zurück, muss man ihnen in der Tat zutrauen, auch hierzulande Straftaten zu begehen.
Genau in dieser Annahme liegt aber auch ein grundlegendes rechtsstaatliches Problem: Es ist eben nur eine Annahme. Als Gefährder gilt eine Person, »bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie politisch motivierte Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der StPO begehen wird«, wobei es im wesentlichen um Tötungsdelikte geht. Hinzu kommt der Begriff der sogenannten Relevanten Person, bei der »objektive Hinweise vorliegen, die die Prognose zulassen«, dass sie ebensolche Straftaten »fördert, unterstützt, begeht oder sich daran beteiligt«, oder bei der es sich um eine Kontakt- oder Begleitperson handelt. »Annahmen«, »Prognosen«, »bestimmte Tatsachen«, »objektive Hinweise« – egal wie die Begriffe lauten: Sie sind nicht gesetzlich definiert, genausowenig wie der Begriff »Gefährder« an sich. Den so Bezeichneten kann man keinerlei Straftaten nachweisen, sondern die Polizei unterstellt sie ihnen lediglich für die Zukunft. Worauf diese Unterstellung basiert, bleibt der Polizei selbst überlassen und entzieht sich einer gerichtlichen Kontrolle.
Das mag, wie der Fall Anis Amri zeigt, immer wieder auch berechtigt sein, es bleibt aber letztlich eine Spekulation. Rechtsstaatlich heikel wird es dort, wo für Verdächtige nicht mehr die Unschuldsvermutung gilt, sondern die Polizei selbst sagt: Es liegen keine gerichtsfesten Beweise vor, und trotzdem werden sie mit spürbaren Sanktionen bewehrt. Die Bundesregierung versucht, dieses rechtsstaatliche Problem zu verdrängen: In der Antwort auf eine Linken-Anfrage erklärt sie, die Einstufung nach dem Gefährderprogramm erlaube nicht schon für sich polizeiliche Maßnahmen, sondern gebe lediglich »Anlass zur Prüfung« solcher Maßnahmen, die dann auf übliche Vorschriften der Strafprozessordnung gestützt werden könnten.
Nun kann man zwar etwa die elektronische Fußfessel als Symbolpolitik betrachten, die den Träger überhaupt nicht effektiv von einem Terroranschlag abhalten kann – der Betroffene ist aber dennoch eine unbescholtene Person, für die die Fußfessel nicht nur Symbol, sondern handfestes Stigma ist.
Zudem werden die Datensätze zu Gefährdern halbjährlich an Polizeibehörden in acht europäischen Staaten übermittelt, außerdem an Europol und an das »Terrorist Screening Center« des US-amerikanischen FBI. Schon die Übermittlung an sich ist ein Grundrechtseingriff, zudem drohen in den jeweiligen Ländern natürlich weitere Maßnahmen. Im Bundestag haben Die Linke und Grüne mehrfach eine gesetzliche Definition des Gefährder-Begriffs angemahnt, um Rechtssicherheit zu ermöglichen.
Behördenzahlen: Hunderte »Gefährder«
Das Bundeskriminalamt listet derzeit 690 sogenannte islamistische Gefährder auf. Hinzu kommen 22 Neonazis und vier angeblich »linksextremistische«. Als »Relevante Personen« (RP), denen ebenfalls die Planung schwerer Straftaten unterstellt wird, gelten 124 Linke, 104 Neonazis und fast 400 Islamisten. Ungefähr die Hälfte der potentiellen islamistischen Gewalttäter hält sich derzeit außerhalb Deutschlands auf.
Von denjenigen 920 Islamisten aus Deutschland, die sich dem »Islamischen Staat« angeschlossen haben, ist rund ein Drittel wieder zurückgekehrt. Etwa die Hälfte davon wird als »Gefährder« bzw. RP gesehen. Bei den Rückkehrern mit aktiver Kampferfahrung oder Ausbildung an Waffen beträgt die entsprechende Einstufungsquote fast 90 Prozent, hierbei handelt es sich allerdings nur um rund 60 Personen. Um die 100 Gefährder sind derzeit im Gefängnis. Ihre Haftzeit kann seit Frühjahr dieses Jahres durch eine Sicherheitsverwahrung verlängert werden. Während über die Einstufung als »Gefährder« allein die Polizei entscheidet, ist für die Sicherheitsverwahrung wie auch für elektronische Fußfesseln ein Gerichtsentscheid nötig.
Der Verfassungsschutz zählt außerdem (unter Einschluss von Mehrfachnennungen) 1.600 Personen, die dem »islamistisch-terroristischen Personenpotential« zugeordnet werden. Einschränkend heißt es allerdings, diese Einschätzung beziehe sich »auf das Vorfeld der polizeilichen Zuständigkeit«, ist also in der Regel ebenfalls eine Annahme und nicht gerichtsfest.
Weil die Polizei mit der lückenlosen Überwachung der 690 »Gefährder« überfordert wäre, installiert das BKA derzeit ein Analyseverfahren, um eine verfeinerte Risikobewertung zu erlauben. Das sogenannte RADAR-System analysiert möglichst viele biographische Informationen, wobei ein hoher Stellenwert vor allem begangenen Gewaltdelikten, aber auch passiv erlittener Traumatisierung durch Gewalt oder Krieg eingeräumt wird. Im Ergebnis wird den Gefährdern ein »moderates«, »auffälliges« oder »hohes« Risiko zugeschrieben. Dementsprechend sollen die polizeilichen Überwachungsmaßnahmen priorisiert werden. Zuständig dafür sind die Bundesländer, das Bundeskriminalamt beansprucht aber die bundesweite Koordinierung und ein einheitliches Herangehen. Dazu gehört auch die Angleichung der Rechtsgrundlagen, wie etwa Telefonüberwachung, die bei »Gefährdern« noch nicht in allen Bundesländern erlaubt ist.