Kommentar von Ulla Jelpke zum Generalstreik gegen die Flüchtlingspolitik auf den griechischen Inseln in junge Welt vom 23.01.2020
Aus Protest gegen die Flüchtlingspolitik der griechischen Regierung stand am Mittwoch auf den Ägäis-Inseln Lesbos, Chios und Samos das öffentliche Leben still. Regional- und Kommunalbehörden sowie ein Großteil der Geschäfte blieben geschlossen. Der Ausstand, zu dem Bürgermeister und verschiedene Berufsverbände aufgerufen hatten, richtete sich gegen hoffnungslos überfüllte Migrantenlager. Die Inseln könnten »nicht mehr Lager verlorener Seelen leidtragender Menschen sein«, erklärte der Regionalgouverneur der nördlichen Ägäis, Kostas Moutzouris, im Fernsehen. Die Regierung in Athen solle dafür sorgen, dass die fast täglich aus der Türkei übersetzenden Flüchtlinge nach ihrer Registrierung umgehend weiter auf das griechische Festland gebracht werden.
Knapp 42.000 Migranten, ein Drittel davon Minderjährige, harren derzeit in der Ostägäis aus, während die Kapazitäten der dortigen als Hotspots bezeichneten Registrierlager bei gerade einmal 9.000 Personen liegen. Viele Flüchtlinge sind gezwungen, auf der Straße, unter Plastikplanen, ohne Strom und fließendes Wasser zu hausen. Die hygienischen Verhältnisse sind katastrophal, es fehlt an medizinischem Personal. Viele Schutzsuchende warten Monate oder Jahre auf ihre Anhörung oder ihren Asylbescheid. Auch für die Einwohner ist die Lage schwer. »Wir können diese Situation in unsere Kleinstadt nicht mehr ertragen. Wir haben auch Menschenrechte«, erklärte der Bürgermeister von Vathy auf Samos.
Die Wut richtet sich in erster Linie gegen Athen. Doch die wirklich Verantwortlichen sitzen in Brüssel – und in Berlin! Denn die Notlage auf den Inseln ist Folge der auf die Bundesregierung zurückgehenden Vereinbarungen zwischen der EU und der Türkei zur Flüchtlingsabwehr. Gemäß diesem Deal soll die Türkei »irreguläre Migranten« von den griechischen Inseln zurücknehmen, während die EU im Gegenzug syrische Flüchtlinge aus der Türkei übernimmt. Schon diese Vereinbarung ist schändlich, da Schutzsuchende in der Türkei alles, nur keinen Schutz finden. Doch in Folge von Verwaltungsstau und schleppenden Asylprüfungen ist das »Hotspot«-System auf den griechischen Inseln gänzlich gescheitert.
Zur unmittelbaren Nothilfe sollten jetzt die rund 2.000 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, von denen viele bereits Angehörige in Deutschland haben, aus den Horrorcamps geholt werden. Dies kann zugleich nur der erste Schritt sein zur Abschaffung der »Hotspots« und Aufkündigung des Flüchtlingsdeals mit Ankara zugunsten eines gerechten Systems der Verantwortungsteilung innerhalb der EU.
Ende der Woche wird Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Gesprächen über die Flüchtlingssituation in der Türkei erwartet. Anstatt dem Kriegstreiber Erdogan weitere Milliarden für seine Dienste als Türsteher der EU in Aussicht zu stellen, muss die Bundesregierung jetzt die Reißleine ziehen.