Inhaftierung geplant
Das Papier der Bundesregierung sieht eine Vorprüfung von Asylanträgen in Transitlagern an den Außengrenzen vor. Dort soll eine »schnelle Prüfung« erfolgen, um darüber zu befinden, »welche Anträge offensichtlich keinen Erfolg haben können«. Damit droht die unverzügliche Zurückweisung.
Zu konkreten Details enthält das Papier nur vage Angaben, gibt aber den Hinweis: »Prüfungsumfang könnten sichere Drittstaaten, sichere Herkunftsstaaten und Belange der öffentlichen Sicherheit« sein. Das würde bedeuten, dass Schutzsuchende, die aus als »sicher« klassifizierten Ländern stammen oder solche durchquert haben, einfach zurückgewiesen werden könnten. Die Vorprüfung solle »innerhalb kürzest möglicher Zeit« mit Unterstützung der EU-Asylagentur durchgeführt werden. Zum Charakter der geplanten Lager heißt es: »Durch geeignete, notfalls freiheitsbeschränkende Maßnahmen (zeitlich begrenzt) ist sicherzustellen, dass sich der Antragsteller dem Vorverfahren nicht entzieht.« Das bedeutet nichts weniger als die Inhaftierung Zehntausender Menschen, die nichts weiter wollen, als ein Grundrecht in Anspruch zu nehmen. Davon betroffen wären auch Kinder und Jugendliche sowie Kranke. Mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sind diese Massenfestsetzungen nicht zu vereinbaren.
Im Rahmen einer »schnellen Prüfung« die vermeintlich offensichtliche Nicht-Schutzbedürftigkeit von Asylsuchenden zu ermitteln, ist mit dem Anspruch auf unvoreingenommene, sorgfältige Prüfung jeglichen Asylgesuchs nicht in Übereinstimmung zu bringen. Dies ist erst recht nicht der Fall, da es hier um Menschen geht, die von Verfolgung und Flucht häufig traumatisiert sind und unter Bedingungen eines Internierungslagers examiniert werden sollen.
Die Absicht, Asylanträge von Menschen aus »sicheren« Herkunftsstaaten oder jenen, die »sichere Drittstaaten« durchquert haben, schon im Rahmen der Vorprüfung aussieben zu wollen, wirft sowohl rechtliche als auch praktische Fragen auf. Die EU-Mitgliedsstaaten haben mitnichten ein gemeinsames Reglement, welche Drittstaaten »sicher« sind und welche nicht. Griechenland etwa betrachtet die Türkei, im Rahmen des EU-Türkei-Deals, als »sicher«, Deutschland tut dis hingegen (noch) nicht. Zudem ist völlig unklar, welches Länderrecht in diesen Transitlagern gelten soll – schließlich ist die Asylrechtspraxis, wie auch die Abschiebepraxis, in den einzelnen Mitgliedsstaaten höchst unterschiedlich.
Nicht zuletzt stellt sich die Frage: Wie und wohin will man realistischerweise abgewiesene Flüchtlinge zurückschicken? In den letzten vor der EU durchquerten Drittstaat? Das wären, da Libyen derzeit ausscheidet, vor allem die Türkei oder Tunesien bzw. Marokko sowie die Westbalkanstaaten, in einigen Fällen auch Belorussland, die Ukraine oder Moldau. Selbst wenn diese allesamt als »sicher« eingestuft würden: Die Transitländer zeigen bislang keinerlei Bereitschaft, der EU ihre Verantwortung für die Durchführung von Asylverfahren abzunehmen. Sicher ist allerdings: Falls Schutzsuchende nach Nordafrika zurückgeschickt würden, müssten sie dort mit allem rechnen – nur nicht mit einem fairen Verfahren. Wahrscheinlicher wäre vielmehr eine Kettenreaktion dergestalt, dass ein jeder dieser Drittstaaten seinerseits einen weiteren Staat ausfindig macht, in den er die ungeliebten Flüchtlinge abschieben kann.
Menschenrechtswidrig
Wer die Vorprüfung übersteht, soll nach einem von der Bundesregierung »Fair share« genannten Verfahren auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden, die Quote berechnet sich nach Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft. Ausnahmen sollen möglich sein: Zugunsten der Flüchtlinge etwa, um Familienzugehörigkeiten zu berücksichtigen, aber auch zu ihren Ungunsten, wenn zum Beispiel ein Mitgliedsstaat ein Abschiebeabkommen mit dem jeweiligen Herkunftsstaat geschlossen hat. Bekräftigt wird der Grundsatz der »ewigen« Zuständigkeit, was bedeutet, dass Zweit- und Folgeanträge in keinem anderen Mitgliedsland zulässig sind. Zur Kontrolle soll bei der Vorprüfung die Zuständigkeit in der Eurodac-Datenbank eingetragen werden, in der auch die Fingerabdrücke der Schutzsuchenden gespeichert werden. Der Rechtsschutz für Flüchtlinge wird drastisch eingeschränkt.
Wer, aus welchen Gründen auch immer, vom zuständigen in ein anderes EU-Land geht, kann nach den Vorstellungen der Bundesregierung ohne aufwendige Verfahren und ohne weiteren Rechtsschutz in den zuständigen Staat zurückgeschoben werden und verliert jeglichen Anspruch auf soziale Versorgung. Die Bundesregierung will damit die im vorigen Jahr in Deutschland herbeigeführte Rechtslage (keine Sozialleistungen für Flüchtlinge, die in anderen EU-Staaten anerkannt sind) zum Modell für die ganze EU machen. Dass dies mit dem deutschen Rechtsgrundsatz, demzufolge jeder Verwaltungsakt auch gerichtlich angefochten werden kann, vereinbar ist, dürfte fraglich sein. Die europäische Rechtsprechung jedenfalls ist eindeutig: Eine Überstellung in ein EU-Land, das die Flüchtlinge nicht menschenrechtskonform behandelt (insbesondere Griechenland und Ungarn, zeitweise aber auch Italien und Bulgarien), ist rechtswidrig. Das bedeutet logischerweise, dass gegen entsprechende Bescheide auch ein Rechtsmittel möglich sein muss. Zudem hat das Bundesverfassungsgericht schon 2012 festgestellt, dass auch Flüchtlinge ein Menschenrecht auf existenzsichernde Versorgung haben und dieses Recht nicht aus migrationspolitischen Erwägungen eingeschränkt werden dürfe.
Man braucht wenig Phantasie, um sich vorzustellen, wie realistisch die Erwartung ist, das angestrebte Vorprüfverfahren »innerhalb kürzest möglicher Zeit« abzuschließen. Es wären ja auch hier wieder vor allem die Mittelmeeranrainer zuständig, von denen Griechenland, Italien und Malta bereits jetzt überfordert sind. Sie müssten für noch mehr Flüchtlinge Infrastruktur, aber auch Rechtsberatung zur Verfügung stellen, und zwar an Orten direkt an der Außengrenze, wo in der Regel keine Großstädte liegen. Die Vorstellung, das Verwaltungsgericht Lampedusa – an der EU-Außengrenze – solle für die Widerspruchsverfahren eines Großteils der dort anlandenden Flüchtlinge zuständig werden, ist schlechterdings absurd.
Die Zustände in den griechischen Hotspots würden sich verstetigen, und ähnliche Elendslager würden in Italien und Spanien entstehen, möglicherweise auch auf dem Balkan. Die Bundesregierung scheint das durchaus zu ahnen, im Papier findet sich der Hinweis, es müsse eine »zeitliche Obergrenze« für das Vorverfahren geben. Könne es in der vorgegebenen Zeit nicht abgeschlossen werden, sei der Antragsteller erst einmal in die EU aufzunehmen. Was das konkret heißt, wird jetzt Verhandlungsgegenstand. Aber auch diese Klausel, die das Schlimmste, nämlich die Vervielfältigung der griechischen Elendslager, verhindern zu wollen scheint, verrät, wie wacklig die ganze Konstruktion ist.
Um es zusammenzufassen: Der deutsche Vorschlag, Flüchtlinge massenhaft an den Außengrenzen einzusperren und sie »Schnellverfahren« zu unterziehen, ist ebenso menschenrechtswidrig wie unrealistisch. Er bürdet ausgerechnet jenen Staaten, die jetzt schon nicht für zügige und faire Asylverfahren und zumutbare Unterbringung von Asylsuchenden sorgen können, noch mehr Verantwortung auf – der sie nicht werden nachkommen können und wollen. Die Idee einer festgelegten Verteilungsquote ist zudem bereits in der Vergangenheit an den osteuropäischen Staaten gescheitert. Der Hauptzweck der »Transitlager« bestünde am Ende vor allem darin, auf Flüchtlinge abschreckend zu wirken. Die Entscheider dort stünden unter erheblichem zeitlichen und politischen Druck, was das Risiko voreiliger Entscheidungen zu Ungunsten der Flüchtlinge erhöht. Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl bezeichnet die Pläne der Bundesregierung daher als »systematisch angelegten Angriff auf den Zugang zum individuellen Asylrecht in der gesamten EU und auf das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf«.
Für den Fall, dass auch der Vorstoß der Bundesregierung an EU-internen Widerständen scheitert, ist allerdings bereits Vorsorge getroffen. So wurde schon im vorigen Jahr in einer neuen Verordnung die Aufstockung der Grenz- und Küstenwache Frontex auf 10.000 Polizisten vereinbart – bis 2027. Seehofer fordert mittlerweile, den Zeitpunkt vorzuziehen, allerdings ohne zu verraten, woher Deutschland die zusätzlichen Polizisten nehmen will. Die neue Verordnung gibt Frontex erheblich mehr Kompetenzen, darunter Exekutivbefugnisse wie etwa die Überprüfung von Reisedokumenten. Im Extremfall – darunter versteht die EU, dass ein Mitgliedsstaat bei der Kontrolle der Außengrenze versagt – darf die EU-Kommission Frontex sogar gegen den Willen des betroffenen Landes dorthin schicken.
Missbrauchte Entwicklungshilfe
Nicht zuletzt verfolgt die Europäische Union auch einen entwicklungspolitischen Ansatz zur »Migrationskontrolle«, genauer gesagt: Sie betreibt einen Missbrauch von Entwicklungshilfe, um insbesondere afrikanische Staaten dazu zu bringen, Flüchtlingsbewegungen zu unterdrücken. Ende 2015 legte die EU den sogenannten Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika auf, der vorsieht, binnen fünf Jahren 4,7 Milliarden Euro bereitzustellen, um die »Ursachen irregulärer Migration« zu bekämpfen. Die Menschenrechtsorganisation Oxfam hat Anfang dieses Jahres eine Studie zur Verwendung der Gelder vorgelegt. Fazit: Bis Mai 2019 wurde mindestens eine Milliarde Euro, mehr als ein Viertel der bis dahin ausgegebenen Mittel, für Projekte eingesetzt, deren Ziel darin liege, »Migration zu verhindern«.
Unter anderem listet Oxfam auf, dass von den 253 Millionen Euro für Niger, eines der wichtigsten Transitländer in Afrika, 122 Millionen der Migrationskontrolle dienen. Unter anderem werden dort biometrische Ausweise für Flüchtlinge produziert. Burkina Faso erhält 22 Millionen Euro für die Unterstützung der Sicherheitskräfte und Grenzbehörden. Je dichter die betreffenden Länder an der Mittelmeerküste liegen, desto geringer wird der Anteil von »echter« Entwicklungshilfe und desto höher der Anteil von Projekten, die direkt der Migrationsabwehr dienen. In Nordafrika betreffe dies bereits mehr als die Hälfte der Mittel, in Zahlen: 299 Millionen Euro von bislang ausbezahlten 544 Millionen Euro dienten »dem Ziel, Flüchtlinge von der Überfahrt über das Mittelmeer abzuhalten«, so Oxfam.
Nach Libyen, seit dem NATO-Krieg 2011 praktisch im Dauerbürgerkrieg, flossen 282 Millionen Euro, davon rund 90 Millionen in die Ausbildung, Ausstattung und den laufenden Betrieb der sogenannten Küstenwache, deren Aufgabe darin besteht, Flüchtlingsboote am Auslaufen zu hindern bzw. auf dem Meer abzufangen. Es ist allgemein bekannt – und wurde auch vom UN-Flüchtlingskommissar wiederholt kritisiert – dass diese Küstenwache Flüchtlinge häufig in staatliche oder »private« Gefangenenlager einliefert, wo sie systematisch misshandelt und versklavt werden. Die EU hilft auch hier: 29 Millionen Euro, so Oxfam, wurden dazu verwendet, die Bedingungen in den offiziellen Gefängnissen »zu verbessern«. Dies als »Entwicklungshilfe« zu verkaufen, ist nichts weniger als betrügerisch. Im übrigen weist Oxfam darauf hin, dass auch die Gewährleistung »echter« Entwicklungshilfe zunehmend davon abhängig gemacht werde, ob die betreffenden Länder dazu bereit sind, Abkommen über die Rücknahme der von Europa abgewiesenen Flüchtlinge zuzustimmen.
Ob es in Zukunft tatsächlich ein »Gemeinsames Europäisches Asylsystem« geben wird, steht in den Sternen. Bis auf weiteres werkeln die EU-Staaten auf eigene Faust an ihrer Abschottung: Seehofer lässt die Bundespolizei seit vergangenem Herbst auch im Hinterland verstärkt nach Ausländern fahnden (an der deutsch-österreichischen Grenze sowieso), künftig will er außerdem Autobahnraststätten und Fernbusbahnhöfe von der Bundespolizei kontrollieren lassen. Weil im Bundesrat die Einstufung von Marokko, Algerien und Tunesien als »sichere Herkunftsstaaten« bislang stets am Widerstand von Ländern mit Regierungsbeteiligung von Bündnis 90/Die Grünen oder von Die Linke scheiterte, will die CDU nun die Zustimmung des Bundesrates umgehen. Das sei möglich, wenn man sie zu »kleinen sicheren Staaten« erkläre, verkündeten trickreiche Unions-Innenpolitiker erst vorige Woche. Ungarn errichtet derweil schier unüberwindliche Zäune an der serbischen Grenze, Bulgarien an der türkischen Grenze, das griechische Verteidigungsministerium entwirft wirre Pläne von »schwimmenden Barrieren« und Abfangnetzen in der Ägäis, und die kriminelle libysche Küstenwache erhält weiter EU-Förderung.
Zur Diskussion steht derzeit auch der erneute Einsatz von Schiffen im Rahmen der EU-Militärmission »Sophia«. Deren Mandat besteht vor allem darin, Fluchtrouten, Schleusernetzwerke und Schmuggelwege auszukundschaften bzw. zu stören. In der Praxis retteten die Schiffe aber auch einige tausend Flüchtlinge aus Seenot – was der Hauptgrund dafür gewesen sein dürfte, dass die Mission auf italienischen Druck hin seit vorigem Jahr keine Schiffe mehr nutzt. Setzt sich Seehofers Plan durch, droht den künftig von »Sophia« Geretteten die unverzügliche Einweisung in die Internierungslager an den EU-Außengrenzen. Ein neues Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes könnte zudem den Weg zu Kollektivzurückweisungen an der EU-Grenze ebnen: Einer Gruppe afrikanischer Flüchtlinge beschied der Gerichtshof, sie seien zu Recht ohne Prüfung eines Asylgesuchs nach Marokko zurückgebracht worden, nachdem sie den Grenzzaun zur spanischen Exklave Melilla überwunden hatten. Denn: Sie hätten vielmehr die »legalen« Einreisewege nach Spanien nutzen sollen, so die Richter in zynischer Realitätsferne.
Eine humanitäre Lösung der Flüchtlingsproblematik, die diesen Namen verdient, ist von der EU nicht zu erwarten. Um so notwendiger bleibt Druck »von unten« – sei es in Form von NGOs, die eigene Rettungsschiffe ins Mittelmeer schicken, Initiativen wie »Sichere Häfen«, der sich bislang 124 deutsche Kommunen angeschlossen haben, oder des europaweiten Projekts »Solidarische Städte« und vieler weiterer Basisinitiativen.