Die »Ortskräfte« der Bundeswehr in Afghanistan werden schon seit Jahren ihrem Schicksal überlassen
von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt am 25.08.2021)
Nach der Eroberung Afghanistans durch die Taliban haben die ehemaligen westlichen Besatzer eine überstürzte und chaotische Evakuierungsoperation gestartet, deren Gelingen faktisch vom Wohlwollen der neuen Machthaber abhängt. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen vor allem die sogenannten Ortskräfte, also insbesondere Afghanen, die in der Vergangenheit entweder ausländischen Militärs oder zivilen Hilfsorganisationen zugearbeitet haben und jetzt überwiegend sich selbst überlassen wurden. Ein 2013 für sie eingeführtes Aufnahmeverfahren blieb bis vor wenigen Tagen nahezu unverändert – obwohl es sich unter den Bedingungen des eskalierenden Krieges zunehmend als überbürokratisiert und langwierig erwies.
Wer sich aufgrund seiner Hilfsdienste für die Besatzer bedroht sah, musste eine Gefährdungsanzeige erstellen und hoffen, dass das Bundesinnenministerium seiner Aufnahme in Deutschland zustimmt. Davon ausgeschlossen waren pauschal alle, deren Beschäftigung schon mehr als zwei Jahre zurückliegt. Diese Zweijahresregel wurde jetzt, zeitgleich zum Abzug der Bundeswehr, gestrichen – allerdings nur für Ortskräfte der deutschen Militärs. Für Beschäftigte im Bereich der Entwicklungshilfe galt die Regel weiterhin, bis zu dem Tag, an dem die Taliban Kabul einnahmen.
Schon 2014 beklagte der ehemalige Wehrbeauftragte des Bundestages, Reinhold Robbe, den Umgang mit den Ortskräften als »beschämend«. Damals wurde berichtet, dass 60 Prozent der Anträge abgelehnt würden. Das scheint sich nicht geändert zu haben: Auf parlamentarische Anfragen antwortete die Bundesregierung, im Zeitraum 2016 bis 2018 seien 13 Anträge bewilligt und 79 negativ beschieden worden. Zwischen April 2020 und März 2021 gab es dann 17 Zusagen, aber 29 Ablehnungen.
Wem die Aufnahme für sich und seine Angehörigen genehmigt wurde, musste seit der Zerstörung der deutschen Botschaft in Kabul zur Auslandsvertretung in Pakistan oder Indien reisen, um ein Visum zu beantragen – das bedeutete mehrere Fahrten quer durch ein Bürgerkriegsland. Wer schließlich ein Visum ergattern konnte, musste das Flugticket selbst bezahlen. Erst seit Juni übernimmt dies der Bund.
Im Mai dieses Jahres schlugen Dutzende Afghanistan-Experten, darunter mehrere ehemalige Wehrbeauftragte, Alarm und forderten eine »zügige und unbürokratische Aufnahme«, und zwar »parallel zum laufenden Abzug des deutschen Kontingents«. Die Bundesregierung jedoch hielt weiterhin am alten Verfahren fest. Die Bundeswehr war weg, die Ortskräfte wurden vertröstet.
Der SPD-Politiker Wolfgang Hellmich, Vorsitzender des Verteidigungsausschusses, nannte es Anfang August in der Süddeutschen Zeitung eine »irrwitzige Vorstellung, dass sich die Familien auf den Weg machen, das Verfahren bewältigen und sich selbst die Flüge buchen«, während »die Taliban die Städte einkesseln«.
Nach Recherchen des ZDF vom 19. August sind derzeit noch 7.000 bis 8.000 ehemalige Ortskräfte und ihre Angehörigen, die sog. Kernfamilie, in Afghanistan. Ihre Gefährdung wird unterschiedlich eingeschätzt. Insbesondere Helfer der Bundeswehr laufen Gefahr, als Kollaborateure verfolgt zu werden. Etliche Hilfsorganisationen hingegen wollen ihre Arbeit auch unter Taliban-Herrschaft fortsetzen.