EU-Spitzen verhandeln mit dem türkischen Präsidenten Erdogan über wirtschaftliche Zusammenarbeit. Kapital hofft auf Ausweitung der Zollunion
von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt vom 07.04.2021)
Die Spitzenpolitiker der Europäischen Union, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel, sind am Dienstag nach Ankara gereist. Bei ihrem ersten Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan seit einem Jahr sollen Möglichkeiten für einen Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen sondiert werden. Die Türkei fordert eine Ausweitung der Zollunion mit der EU, den Wegfall der Visapflicht für türkische Staatsbürger bei EU-Reisen sowie mehr Geld für die Versorgung von Flüchtlingen. Bereits bei einem Treffen Ende März hatten die EU-Staats- und Regierungschefs dem an der Spitze einer islamistisch-faschistischen Allianz stehenden Erdogan verstärkte Wirtschaftszusammenarbeit und finanzielle Unterstützung in Aussicht gestellt. Sorge herrscht bei den EU-Regierungen, dass Erdogan die Zusammenarbeit in der Migrationspolitik aufkündigt. Denn dann könnten Millionen syrischer Flüchtlinge, die derzeit im Rahmen des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals in der Türkei festgehalten werden, in die EU weiterreisen.
Wegen immer wieder neuer Einschnitte bei Rechtsstaatlichkeit und Grundrechten wie der Meinungsfreiheit in der Türkei hatte die EU 2018 Gespräche über einen Ausbau der Zollunion auf Eis gelegt. Seitdem hat sich die Lage nicht verbessert – im Gegenteil. Erst am Wochenende war der für sein menschenrechtliches Engagement bekannte Oppositionspolitiker Ömer Faruk Gergerlioglu, dem im März sein Abgeordnetenmandat aberkannt worden war, in seiner Wohnung in Ankara verhaftet worden. Die Polizisten misshandelten den Arzt, der wegen eines Friedensappells zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt worden war, so sehr, dass er mit einer Herzattacke im Krankenhaus behandelt werden musste.
Zwar hatte sich der Fraktionsvorsitzende der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament, Manfred Weber (CSU), gegen ein vorschnelles Entgegenkommen gegenüber Ankaras Forderungen ausgesprochen und verlangt, diese an die Einhaltung der Pressefreiheit und den Schutz der Grundrechte zu knüpfen. Doch von einer Ausweitung der 1995 geschlossenen Zollunion auf die Bereiche Dienstleistungen, Agrarprodukte und Beschaffungswesen erhofft sich auch das europäische Kapital wirtschaftliche Vorteile.
Ein Streitpunkt ist Ankaras im vergangenen Jahr mittels Kriegsschiffen im östlichen Mittelmeer aggressiv vorgetragener Anspruch auf Erdgasvorkommen im Hoheitsgebiet der EU-Mitglieder Griechenland und Zypern. Hier hat Ankara nach EU-Sanktionsdrohungen – vorerst – seine Flottille zurückbeordert und Gespräche mit Athen begonnen. Ein entsprechendes innenpolitisches Einlenken ist derweil nicht zu erwarten. Die EU habe deutlich gemacht, dass für sie die innenpolitischen Zustände in der Türkei nicht mehr handlungsleitend seien, sondern allein die Außenpolitik zähle, meinte Günter Seufert, Leiter des als Berater der Bundesregierung tätigen Centrums für angewandte Türkeistudien (CATS) in Berlin, gegenüber dpa am Dienstag. »Es gibt daher für Erdogan keinen Grund, Rücksicht auf die EU zu nehmen.«
Linke, Grüne und FDP im Bundestag übten heftige Kritik am Ankara-Besuch der EU-Spitzen, der ein falsches Signal an Erdogan sei. Auch Mithart Sancar, der Kovorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in der Türkei, forderte, die EU müsse statt dessen mit Erdogan härter ins Gericht gehen. Die linke Partei, die die zweitstärkste Oppositionsfraktion im türkischen Parlament stellt, ist von einem Verbot bedroht.