Coronaverordnungen missachten das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit. Widerspruch aus Karlsruhe
von Ulla Jelpke (erschienen in der jungen Welt vom 18.04.2020)
Die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronaviruspandemie haben zu einem weitgehenden Verbot von Demonstrationen geführt. Das Bundesverfassungsgericht verpflichtet die Behörden nun, von ihrem Ermessensspielraum Gebrauch zu machen.
Selbst wenn die Anmelder von Demos nur wenige Teilnehmer versammeln und einen Mindestabstand ankündigen, kassieren sie teilweise haarsträubende Verbotsbescheide. So untersagte das Verwaltungsgericht Dresden am 30. März eine Kundgebung »Gesundheit und Grundrechte für alle«, weil man nicht ausschließen könne, dass sich noch weitere Passanten anschließen. Die Kooperationsbereitschaft der Anmelder, die zugesagt hatten, keine Flugblätter zu verteilen und nicht öffentlich zu werben, wurde dahingehend verdreht, dass die Kundgebung dann ja eh nur »eine geringe Außenwirkung« habe. Sie sollten doch lieber »über Social-Media-Kanäle etc.« ihre Meinung kundtun, so das Gericht. Das Verwaltungsgericht Neustadt/Weinstraße untersagte eine Zwei-Mann-Demo rechter Verschwörungstheoretiker gegen »Migrationspolitik, neue Weltordnung, Corona«, weil mit Gegenprotesten zu rechnen sei und sich weitere Personen anschließen könnten. In Hannover wurde eine Kundgebung »gegen das totale Versammlungsverbot« verboten, obwohl maximal 15 Teilnehmer kommen sollten. Eine Virusverbreitung könne »nicht gänzlich ausgeschlossen« werden, so das Verwaltungsgericht Ende März.
Doch selbst Protestformen, die noch das kleinste Risiko einer Virusverbreitung vermeiden, müssen mit Verboten rechnen. So wurde Anfang April bundesweit eine Aktion der Seebrücke behindert, die lediglich darin bestand, als Zeichen der Solidarität mit Flüchtlingen Schuhe an zentralen Plätzen abzulegen, quasi im Rahmen eines Spaziergangs. In Berlin wurde sogar ein Autokorso untersagt. In Potsdam trieb die Polizei Menschen, die mit Plakaten in der Warteschlange einer Bäckerei für Solidarität mit Flüchtlingen warben, auseinander.
Es gibt allerdings auch andere Urteile: Das Verwaltungsgericht Schwerin genehmigte einen Ostermarsch mit der Auflage: »Die Teilnehmer haben während der Veranstaltung einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen«. Außerdem mussten die Veranstalter Namen und Anschrift der maximal 20 Teilnehmer notieren, um diese bei einem Krankheitsausbruch dem Gesundheitsamt übermitteln zu können. Auch in Münster durften Anfang April 30 Menschen mit Masken gegen Urantransporte demonstrieren. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof monierte am 9. April, die Behörden hätten zu prüfen, inwiefern durch entsprechende Auflagen der Infektionsschutz sichergestellt werden könne.
Prinzipiell erlaubt sind Demonstrationen derzeit nur im Bundesland Bremen, wobei sich die Landesregierung offen hält, sie »zum Zwecke der Verhütung und Bekämpfung« der Pandemie einzuschränken oder zu verbieten. Ansonsten wird der Grundsatz in den Coronaverordnungen, dass nur zwei Personen miteinander in der Öffentlichkeit unterwegs sein dürfen, von Behörden und Gerichten zum Beispiel in Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hessen und Sachsen als implizites Verbot von Demonstrationen gewertet. Andere Länder, wie Bayern, Berlin und Sachsen-Anhalt, halten in ihren Verordnungen fest, dass Demonstrationen ausnahmsweise, unter bestimmten Umständen und bei Erfüllung von Auflagen, die das Infektionsrisiko verringern, stattfinden dürfen. Hingegen sehen das Saarland, Brandenburg und Thüringen ausdrücklich ein Verbot jeglicher politischer Kundgebungen vor.
Ein solches Totalverbot ist allerdings verfassungswidrig – diese Auffassung, die die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags schon Anfang des Monats in einer Studie vertraten, hat vorgestern auch das Bundesverfassungsgericht bekräftigt. Den Vorinstanzen, die einen Protest unter dem Motto »Gesundheit stärken, statt Grundrechte schwächen« in Gießen verboten hatten, wurde ins Stammbuch geschrieben, dass das Recht auf Versammlungsfreiheit immerhin grundrechtlich geschützt sei und nicht durch eine Rechtsverordnung aufgehoben werden könne. Die Versammlungsbehörde sei in jedem Fall verpflichtet, ihren »Entscheidungsspielraum« zu nutzen. Damit dürfte der Trend zum Vermummungsgebot Auftrieb erhalten.