Hinter dem harmlosen Titel »Gesetz zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren« verbirgt sich die endgültige Legalisierung des Deals statt eines aus Beweisen resultierenden Urteils. Heribert Prantl kommentierte zutreffend in der Süddeutschen Zeitung vom 27. Mai: »Im Bundestag wird der klassische deutsche Strafprozeß zu Grabe getragen – er wird abgelöst vom ausgehandelten Konsensprozeß. Die Gerechtigkeit steht dumm da.«
Die große Koalition gibt mit dieser »Reform« den Anspruch auf, daß in einer Hauptverhandlung die Wahrheit ermittelt werden soll, damit ein gerechtes Urteil gesprochen werden kann. Statt dessen wird der Justiz die Arbeit erleichtert, indem ein – nicht zwingend richtiges – Geständnis oder Teilgeständnis eine langwierige Beweisaufnahme entbehrlich macht; als Gegenleistung wird ein mildes Urteil ausgehandelt. Diese Absprachen kommen, wie die bisherige Praxis zeigt, den gut betuchten Angeklagten zugute, die sich die teuersten Anwälte leisten können. Bevor die Richter sich mit diesen abplagen müssen, gehen sie lieber auf einen Deal ein. Das garantiert einen kurzen Prozeß ohne Hunderte von Beweisanträgen und ein schnelles Urteil, das von niemandem angefochten wird, kurz: wenig Arbeit, allerdings unter Verzicht auf Gerechtigkeit. Profiteure sind die Täter mit den weißen Kragen, die Wirtschaftskriminellen, die die Gemeinschaft um Millionen-, wenn nicht Milliardenbeträge geschädigt haben. Gerade die Wirtschaftsstrafkammern praktizieren schon lange solche Absprachen und haben dafür nunmehr den Segen der Mehrheit des Bundestags. Dem kleinen Kaufhausdieb oder der Verkäuferin, die unerlaubt eine Pizzaschnitte ißt, winken derartige Vergünstigungen nicht. Der Deal ist ein eklatanter Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz.
Ähnlich problematisch ist die Wiedereinführung der vor zehn Jahren ausgelaufenen Kronzeugenregelung. Auch hier droht nun für die gleiche Tat nicht mehr die gleiche Strafe. Der Angeklagte, der einen anderen wegen einer angeblichen Straftat denunziert, kann auf gesetzlich vorgesehene Milde pochen. Sachverständige wie der renommierte Frankfurter Strafrechtler Peter-Alexis Albrecht warnten das Parlament vergeblich vor der Kronzeugenregelung, führt sie doch unweigerlich zu zweifelhaften Aussagen. Angeklagte, die ihre eigene Haut retten wollen, werden selbstverständlich das Blaue vom Himmel herunterlügen und andere beschuldigen, um selber billiger davonzukommen. Gerade in politisch eingefärbten Strafprozessen der Vergangenheit wie gegen die »Roten Zellen« in Berlin konnte man die Erfahrung machen, daß solche ungerechten Verfahrensregeln zu falschen Anschuldigungen führen. Was die Bundesregierung als »Strafzumessungsregel für Aufklärungs- und Präventionshilfe« vorlegte, ist in Wahrheit ein unwürdiger Handel mit der Gerechtigkeit und ein Judaslohn für Verrat.
Gegenüber der früheren Kronzeugenregelung, die bis 1999 galt, ist neu geregelt worden, daß ein Angeklagter die Strafmilderung nicht nur dann erhält, wenn er nähere Angaben über seine eigene Straftat macht, sondern auch dann, wenn er über Taten Dritter, mit denen er selber gar nichts zu tun hat, Auskunft gibt. Gerade diese Neuregelung lädt zu falschen Anschuldigungen ein und wird viele Unschuldige in strafrechtliche Ermittlungsverfahren hineinziehen. Das kann für sie sehr belastend sein, auch wenn am Ende ein Freispruch steht.
Schließlich hat die Koalition mit dem »Gesetz zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten«, das den Aufenthalt in sogenannten Terrorcamps unter Strafe stellt, das Tatprinzip verlassen und ein rechtsstaatswidriges Gesinnungsstrafrecht eingeführt. Bisher galt, daß die Durchführung von kriminellen Handlungen oder deren Versuch strafbar sein sollten, nicht jedoch bloße Vorbereitungshandlungen. Davon weicht die Neuregelung ab.
Hinzu kommt, daß die neuen Strafgesetzbuch-Paragraphen 89 a und 89 b jegliche Aufnahme von Beziehungen zu einer Gruppe unter Strafe stellen, wenn diese einer zukünftigen Unterweisung in irgendwelchen, nicht näher bezeichneten Fertigkeiten dienen sollen, die wiederum einer möglichen zukünftigen, noch unbestimmten schweren Straftat dienen sollen. Nicht einmal konkrete Anschlagspläne müssen nachgewiesen werden.
Auch das Herunterladen von Sprengstoffrezepten aus dem Internet kann künftig strafbar sein. Ob es zur Vorbereitung eines Anschlags. aus wissenschaftlichem Interesse oder bloßer Neugier geschieht, soll sich aus der politischen oder religiösen Gesinnung ergeben. Ebenso wenig wird unterschieden, ob ein Guerillacamp zu journalistischen Recherchezwecken, aus Abenteuerlust oder zur Kampfausbildung besucht wird, wenn die (beispielsweise islamistische) Gesinnung einer Person aus Sicht der deutschen Justiz potentielle Anschlagsabsichten vermuten läßt. Die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristinnen und Juristen charakterisierte den Entwurf von Frau Zypries mit den Worten: »Das ist nicht weniger als das Gedankenverbrechen aus Orwells ›1984‹.«
Das Bundeskriminalamt wird die neuen Strafbestimmungen zu noch mehr Lauschangriffen, Spähangriffen in Wohnungen und heimlichen Online-Durchsuchungen von Computern nutzen können. Das ist wahrscheinlich sogar der Hauptzweck: Gummiparagraphen im Strafgesetzbuch geben den Strafverfolgungsbehörden neue Möglichkeiten, in die Bürgerrechte einzugreifen. Schon die behauptete Annahme einer bösartigen Gesinnung, hinterlegt mit einer entsprechenden Legende, wird dazu ausreichen, strafprozessuale Eingriffe in die Privatsphäre zu rechtfertigen, selbst wenn die Beweislage am Ende nicht zu einem Schuldspruch reichen wird. Die Überwachungsmöglichkeiten werden uferlos ausgedehnt.
Justizministerin Zypries räumte ein, die von ihr selbst vorbereiteten Gesetze seien »verfassungsrechtlich auf Kante genäht«. Man kann nur hoffen, daß das Bundesverfassungsgericht diese Schritte in ein Feindstrafrecht, wie es in den USA in letzter Konsequenz zu Guantanamo geführt hat, als verfassungswidrig verwerfen und damit rückgängig machen wird.